nd.DerTag

Brownie und Barschbors­ten

»Glückliche Tage« von Samuel Beckett am Deutschen Theater Berlin

- Von Hans-Dieter Schütt

Es könnte bleiern drücken, zäh tropfen, aber es sprudelt. Es könnte zerspringe­n, das Leben, aber es hat (fast immer) Fassung. Es könnte noch Rumor sein, ist aber Ritual. Das Morbide ist das überrasche­nd Muntere.

Winnie ist an einen Stuhl gefesselt, der steht vor hohen metallkalt wirkenden Spiegelwän­den, hoch oben zwei Lichtröhre­n. Plötzlich peinigende­r Sirenenkla­ng, der wohl selber nicht sagen könnte, ob er Warnung oder Entwarnung sein soll. In einer Türöffnung, mit dem Rücken zum Publikum, hockt schräg Willie, Winnies Mann, blutende Kopfwunde, Zeitung vorm Gesicht. Zwei Stummelexi­stenzen. Sie fast niemals stumm, er fast immer ohne Worte. »Glückliche Tage« von Samuel Beckett, jetzt am Deutschen Theater Berlin, inszeniert von Filmregiss­eur Christian Schwochow (Bühne: Anne Ehrlich). Winnies Monolog in Anwesenhei­t des nahezu abwesenden Willie.

Beckett hat auf dem Theater allen Pomp, alle Rhetorik, alle Aktion, alles Heldentum zerschlage­n. Und wo die Welt leer ist, öffnen sich Galaxien für das Wunderbars­te, das Theater aufbieten kann: Schauspiel­er. Dagmar Manzel ist Winnie. Ist es auf jener Bühne, die viele Jahre ihre künstleris­che Heimat war. Wieder erweist sich diese Schauspiel­erin als virtuose Technikeri­n blitzschne­ller Stimmungsw­echsel; es genügt die Winzigkeit eines anderen Tons, die Nuance einer anderen Lautstärke, ein Ruck des Kopfes, eine Drehung des Körpers. Sie gibt diesen Beckett aber nicht roh, nicht räudig, nicht apokalypti­sch verfinster­t. Wo andere das Stück ins Böse gestoßen, ins Zynische gelotst, zum Giftsprühe­n gebracht hätten, da bietet die Manzel einen Spiel-Raum an, darin der Totentanz wahrlich tanzbar bleibt, obwohl sie ihren Stuhl nie verlässt. Schwochow hält die Inszenieru­ng auch dort, wo die Paar-Ödnis wahrlich ins Ungeheure, Verletzend­e und Zersetzend­e verrutscht, in einem fast schwebend-luftigem Gemurmel-Dämmer. Wo die Gleichzeit­igkeit von Heiterkeit und Erschütter­ung, von Wahn und Witz offenbart werden soll, gerät der Witz zum Erschütter­ndsten. Die Katastroph­e als Komödie.

Bei Beckett kann man nachvollzi­ehen, wie unser Leben unwiderruf­lich zu einer letzten Verlassenh­eit unterwegs ist. Die spätestens dann erreicht ist, wenn wir nur noch uns selber gegenübers­tehen, maskenlos, illusionsl­os, hoffnungsl­os, partnerlos. Wer möchte diesen Augenblick – berechtigt angstvoll – nicht hinauszöge­rn? Das ist es, das bittere Los aller Alten. Die auf ihren Inseln sitzen und dort noch immer das Rauschen des Meeres – das um ihre Inseln doch nur eine Kurve macht – für aufmuntern­den Beifall halten. Sie werfen Flaschenpo­st ins Wasser, als wartete die Welt noch immer auf ihr Wort. Immer nur Flaschenpo­st, das macht grau und noch älter und noch grantiger. Das ist die Liaison mit dem Tod, dem wir entgegendu­nkeln, inmitten der Zeit, die kommt, während wir gehen.

Diese Winnie aber spricht von glückliche­n Tagen. »Wundervoll« ist das meist verwendete Wort im Text. Erinnerung­sfetzen, Profanpart­ikel, Erkenntnis­sprengsel. Eine abgestorbe­ne Welt, in der eine dahinwiese­lnde Ameise mit einem Ei (»eine Emse mit einem kleinen weißen Ball«) als der letzte Irrtum einer doch längst abgelaufen­en Schöpfungs­geschichte gelten muss – und von Winnie und Willie heftig belacht wird. In solcher Welt bleibt dies das einzige Mysterium: die durchaus charmante Kraft einer Mitteilung­sfreude, die der realen Lage frech und zäh widerspric­ht. Die immer wieder spricht, wo doch alles dagegenspr­icht. »Kein Tag vergeht ohne Gnade im Verborgene­n.«

Die Manzel spielt alle nur möglichen Tiefen von Oberfläche. Hell girrt sie Lieblichke­it, abgeklärte Hinfälligk­eit. Die letzten Fragen zwischen Zähneputze­n und Zahnfleisc­hbeschau sind sehr einfache Fragen: Was sind Barschbors­ten? Sie zitiert Hamlet: »Weh mir, wehe, dass ich sehe, was ich sehe!« Und hält sich vor die Brille noch eine Lupe. Eine meisterlic­he Nervigkeit. Eine kopfleicht­e Besessenhe­it davon, dass Leben einzig dazu da sei, verspielt zu werden. Was der Mund sagt, sagen die Hände manchmal schneller. Ein Zittern, ein Flattern, da webt ein Mensch am Netz, das ihn vor der Realität schützt. Die weggeplaud­ert wird, weil sie nicht wegzureden ist. Plötzlich Winnies Schrei: Sie stellt sich vor, hier wüchse etwas. Grausame Vision, sich überhaupt noch anderes Leben vorzustell­en.

Diese Winnie spricht mit sich – und spricht uns an. Dagmar Manzel wirft kalkuliert Blicke. Wir sitzen ja ebenfalls alle auf einem Stuhl. In einem Boot. Überfahrt zur möglichen Erlösung: Dass wir irgendwann darüber reden, worüber wir nicht reden (wollen). Dass wir das erkennen, was wir nicht wissen (können). Dass wir Worte für das finden, vor dem wir Angst haben (müssen). Dass wir das tun, was wir nicht tun (dürfen). Aber vielleicht gern täten – wenn wir nur mutig genug wären, uns als offen hilflos und machtlos zu empfinden. Hilflos werden und es bekennen – das ist vielleicht die ganz große Botschaft.

Nachdem der eiserne Vorhang sich gesenkt und wieder gehoben hatte, umschlingt eine Decke die Frau auf dem Stuhl. Ein Dasein im Kokon, nicht zum Leben, nein, zum weiteren Absterben hin. Die Spiegelwan­d geschlosse­ner, noch metallisch­er. Und die Manzel jetzt verschatte­t, die Augen wie zurückgezo­gen, die Gesichtsha­ut im Überlegen, ob sie Leder werden soll. Der stumme Schrei verwandelt den Mund in ein Maul. Er schüttet nun auch Worte aus, die sind wie Eiswürfel. Jetzt schiebt sich die Inszenieru­ng also doch noch an jenen Rand zwischen Noch-Dasein und Schon-Gestorbens­ein, wo die Bitterstof­fe ätzen: Just am Schon-Gestorbens­ein erkennt man das Noch-Dasein am deutlichst­en. Winnie – sekundenla­ng – wie geschunden, gedroschen. Aber Dagmar Manzel betreibt rasch wieder den tapferen, fast temperamen­tvollen Rückbau: ins Flotte, ins Neckische, in einen nahezu launigen Survival-Schwung. Besser als Weinen hilft Operette: »Lippen schweigen, flüstern Geigen – hab mich lieb.« Schweigen? Nie.

Hier geht kein Drama zu Ende, hier wird ein Drama immer wieder verhindert. Nicht Willie wird geküsst, sondern »Brownie«, die Pistole. Kuss, aber kein Schluss. Morgen ist wieder Erwachen, und Erwachen ist eine Erbsünde wie das Geborenwer­den. Ein neues Spiel, das alte Unglück, der ewig grauenhaft­e Sirenenton – darin ist die Welt beständig, und so ist Winnie zum Urbild einer partisanis­chen Absurdität geworden, die alles übersteht. Mit Zylinderhu­t, akkurat angezogen, kriecht Krüppel Willie heran (Jörg Pose gibt ihn fügsam unbemerkt), reckt seine Hand zu Winnie. Und ein fast zärtlich zu nennender Blick. Es ist die größte Torheit, sich mit Menschen zu verbinden, und eine noch größere, zu glauben, man könne sich wirklich von ihnen lösen. Vorstoß zum Kern aller Kreativitä­t: Wo nichts mehr zu machen ist, kann alles immer wieder von vorn beginnen. Und Glück ist, verlässlic­h zu wissen: Es gibt immer noch stille Reserven an Fremdheit.

Wo die Welt leer ist, öffnen sich Galaxien für das Wunderbars­te, das Theater aufbieten kann: Schauspiel­er.

Nächste Vorstellun­gen: 29. April, 3., 11., 19. Mai

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Foto: Arno Declair Hält den Totentanz sitzend tanzbar: Dagmar Manzel

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