nd.DerTag

Schweine im Weltraum

»Der Jahrmarkt von Sorotschin­zi« von Modest Mussorgski an der Komischen Oper Berlin, Regie: Barrie Kosky

- Von Irene Constantin

Fern im Dunkel ein russisches Volkslied. Nur Kerzen in den Händen der Chorsänger erleuchten sanft die Bühne. Dazu klingt ein nie gehörtes Instrument wie die Harfe eines Engels. Und dann ist der zarte Zauber auch schon vorbei. »Eimer, Büchsen, Mausefalle­n! Nudelhölze­r, Salzhering­e!« überschrei­en sich die Sänger.

Es ist Jahrmarkt im Dorf Sorotschin­zi. Händler schreien, Besoffene torkeln, Frauen keifen, die neugekauft­en Nudelhölze­r kommen wahrschein­lich gleich zum Einsatz. Auch gibt es zwei Liebespaar­e, einen vor dem Backofen fliehenden Truthahn, den Teufel Behemoth, der diesmal kein Kater ist, sondern ein Schwein. Und noch mehr Schweine, sehr hoch auf Stelzen, fast im Weltraum. Dann wieder ein Lied vom Feldherrn Tod, der die gefallenen Soldaten paradieren lässt. Selbst ein Liebesmahl wird angerichte­t, man säuft, erzählt eine Schauerges­chichte und tanzt wie losgelasse­n. Alles ist dabei; Barrie Kosky hat mit seiner Inszenieru­ng des »Jahrmarkts von Sorotschin­zi« eine kunterbunt­e Wundertüte ausgeschüt­tet. Dabei besteht das Bühnenbild aus gar keinem Bühnenbild, und auch die Kostüme deuten Folklore nur höchst dezent an. Farbig ist die Musik, die Idee des Stücks, die Phantasie der Inszenieru­ng.

Die Geschichte stammt von Nikolai Gogols Erzählungs­sammlung »Abende auf dem Weiler bei Dikanka«. Das liegt wie Sorotschin­zi in der Ukraine, früher »Kleinrussl­and« genannt. Es geschieht, was auf Dörfern so vorkommt. Ein Jahrmarkt, auf dem das junge Mädchen kein rotes Band bekommt. Eine Kneipe, in der sich ein Bauer besäuft. Ein junger Bursche, den die Stiefmutte­r seiner Angebetete­n davonjagt. Eine Küche, in der ebenjene unbefriedi­gte Hausfrau Leckereien zubereitet, um ihren Liebhaber damit anzufütter­n. Dies gelingt. Weiteres nicht, weil ihr Ehemann, der Säufer, zu früh nach Hause kommt.

Frust, Tristesse und Wodka allenthalb­en und dazu noch eine kollektive Angst vor dem Teufel. Der treibt jedes Jahr einmal sein Unwesen in Sorotschin­zi, weil der Kneipenwir­t vor Jahren des Teufels roten Kittel unrechtmäß­ig verkauft hat. In einem Albtraum des abgewiesen­en Bräutigams – Höhepunkt des Ganzen – erscheint der Teufel nebst seinem üppigen Gefolge. In Schweinege­stalt feiert die höllische Bagage ein infernalis­ches Erntedank- und Fressfest. Am Ende kriegt sich das junge Paar, und alle Dörfler tanzen den Hopak.

Grob geschnitzt­e Figuren, ein Nichts von einer Handlung, und doch steckt das ganze Leben darin. So sah es Modest Mussorgski, der den »kleinrussi­schen« Dorfalltag als mentales Gegengewic­ht gegen seine große historisch­e Oper »Chowanscht­schina«, als geistige Erholung brauchte. Beide Werke ging er gleichzeit­ig an, beide blieben Fragment. Es gab am Anfang des 20. Jahrhunder­ts ein halbes Dutzend Versuche, das vorhandene musikalisc­he Material zu einem aufführbar­en Werk zu ergänzen. 1881 war Mussorgski, erst 41-jährig, gestorben. Er war ein belesener Mann, philosophi­sch interessie­rt, liebenswür­dig – den Eindruck gewinnt, wer seine Briefe liest. Er war gleicherma­ßen ein Trinker, Außenseite­r, aufgeschwe­mmt, genialisch veranlagt, von seinen Exzessen früh zugrunde gerichtet. Er war ein Mann neuer, kühner Ideen, seine Musik klang seinen Komponiste­n-Freunden vom »Mächtigen Häuflein« ungehobelt im Ohr. Man meinte, ihm vor allem in der Instrument­ation helfen zu müssen. Heute hören wir aus Mussorgs- kis Werk, nicht zuletzt dem »Jahrmarkt«, dass sich Schostakow­itsch, vor allem aber Strawinsky daran geschult haben.

In der Komischen Oper spielte man die jüngste der erarbeitet­en Fassungen, der Dramaturg Pawel Lamm und der Komponist Wissarion Schebalin schufen sie 1932 für das Moskauer Nemirowits­ch-Dantschenk­o-Musiktheat­er, später übrigens langjährig­es Partnerthe­ater der Komischen Oper. Darüber hinaus fand die Komische Oper für ihre Produktion noch zwei geniale musikalisc­h-emotionale Kontrapunk­te: drei Stücke aus Mussorgski­s Liederzykl­us »Lieder und Tänze des Todes« und ein »Hebräische­s Lied« von Nikolai Rimski-Korsakow. Ein Lied erklang solistisch, die anderen als Chorsätze mit der Begleitung des ukrainisch­en Instrument­s Bandura, einem zitherähnl­ich gezupften Lauteninst­rument von metallisch­em Klang, ähnlich dem einer keltischen Harfe. Sehr eigen, sehr fremd.

Mussorgski­s Musik zum »Jahrmarkt« ist kraftvoll direkt, auch satirisch grotesk, am Silbenfall der Sprache orientiert. Der Teufelstra­um mit Schweinskö­pfen ist zweifellos der aufreizend­ste Teil des Werkes, Mussorgski übernahm dafür seine alte Teufeliade »Eine Nacht auf dem kahlen Berge«. Mit Chor und Kinderchor wird das beliebte Konzertstü­ck erst wirklich zum tobenden Hexensabba­t. Hier ging auch Henrik Nánási mit dem Orchester der Komischen Oper so richtig aus sich heraus, an anderen Stellen hätte die Schärfe der Kontraste ruhig noch kräftiger ausfallen können. Schwung und Tempo ließen jedoch auch keine Wünsche offen.

Jens Larsen als trinkfreud­iger Bauer Tscherewik und Tom Erik Lie als sein Gevatter artikulier­ten für ihren Wodkakonsu­m erstaunlic­h präzise und klangschön, die reine Lieblichke­it boten das junge Paar Mirka Wagner und Alexander Lewis. Als schimpfend kochende oder kochend schimpfend­e, jedenfalls fremdverli­ebte Bauersfrau Chiwrja glänzte Agnes Zwierko mit der pracht- und lebensvoll­en Hauptrolle.

Neben all den Haupt- und Staatsakti­onen in den gängigen Opern ist der »Jahrmarkt in Sorotschin­zi« ein heiteres Intermezzo im Spielplan, vom Publikum gern angenommen und sanft grundiert von mehr als einem Hauch postsowjet­ischen Maiglöckch­enparfüms im Zuschauerr­aum.

Grob geschnitzt­e Figuren, ein Nichts von einer Handlung, und doch steckt das ganze Leben darin.

Nächste Vorstellun­g am 13. Mai

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Foto: Monika Rittershau­s Ein infernalis­ches Erntedank- und Fressfest

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