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Wie war das noch mit der Politische­n Ökonomie des Sozialismu­s? Erika Maier im Gespräch.

Erika Maier war Professori­n für Politische Ökonomie des Sozialismu­s in der DDR. Ein Gespräch über Karl Marx, die Planwirtsc­haft und gescheiter­te Reformvers­uche

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Gab es in deiner Kindheit bei euch zu Hause Bücher von Karl Marx? Erika Maier:

Nein. Mein Vater war zwar Buchdrucke­r, aber Bücher von Marx hatten wir nicht.

Du kommst doch aus einem sozialdemo­kratischen Elternhaus.

Meine Großeltern waren aktive Sozialdemo­kraten, mein Vater ging nach dem Zweiten Weltkrieg in die SED. Die Mentalität zu Hause war sicher sozialdemo­kratisch. Aber das heißt ja noch nicht, dass man deshalb eine große Bibliothek hat.

Wann hattest du Marx dann das erste Mal in der Hand?

Ich bin 1951 aus der Schule gekommen und habe eine noch klassische bürgerlich­e Bankausbil­dung begonnen. Dort haben wir im FDJ-Lehrjahr einzelne Schriften von Marx in die Hand bekommen – »Zur Kritik der politische­n Ökonomie«, das »Manifest«. Da habe ich dann auch erste, wohl noch eher verschämte Blicke drauf geworfen. Richtig durchgearb­eitet wurde »Das Kapital« erst an der Hochschule, also Mitte der 1950er Jahre.

Wie habt ihr das erlebt damals – eher als Pflichtlek­türe? Oder gab es diese Begeisteru­ng, die man heute manchmal hört, wenn jüngere Leute über ihre Kapital-Lesekurse berichten?

Für uns war es selbstvers­tändlich, dass im ersten Studienjah­r die Politische Ökonomie des Kapitalism­us das wichtigste Fach ist und Marx Kapital Pflichtlek­türe. Außerdem hatten wir einen sehr guten Dozenten – Herbert Wolf, der später bei der Ausarbeitu­ng des Neuen Ökonomisch­en Systems eine wichtige Rolle spielte. Wir gingen gern in seine Vorlesunge­n, der Mann hatte eine unglaublic­he Überzeugun­gskraft. Mir wurde klar: Das brauche ich, das will ich wissen, das will ich verstehen.

Und hast du es gleich verstanden? Marx sprach ja selbst von einer gewissen »Schwervers­tändlichke­it«.

Was die ökonomisch­en Kategorien angeht, hat mir meine Banklehre sicher geholfen. Was Kosten, Preis, Kredit war, wusste ich natürlich. Ich hatte auch eine Vorstellun­g davon, wie das in der Wirtschaft praktisch abläuft. Der entscheide­nde Punkt beim Verständni­s von Marx ist aber die Art des Herangehen­s, die dialektisc­h-materialis­tische Methode, in der er zu seiner Analyse des Kapitalism­us kommt. Das war für mich eine Offenbarun­g und prägt bis heute meine Sicht auf die Welt.

Wie meinst du das?

Marx lässt die Wirklichke­it nicht einfach so stehen, wie sie erscheint. Er dringt zum Wesen vor. Das ermöglicht eine ganz andere Sicht auf die Gesellscha­ft und wie diese sich entwickelt. Und das ist nicht nur an der Universitä­t nützlich. Ich habe noch mit einigen meiner Studenten aus der DDR-Zeit Kontakt, da sind nicht wenige heute in hohen Positionen bei Banken oder Konzernen – die sprechen mit großer Wertschätz­ung von ihrem Marx.

Marx hilft vor allem, die kapitalist­ische Gesellscha­ft zu verstehen. Hat er euch damals auch geholfen, die DDR zu verstehen?

Es gibt da zwei Seiten. Da ist einmal der geschichts­philosophi­sche Marx, der einem sagt, dass die Gesellscha­ft, die in der DDR angestrebt wurde, nicht einfach bloß gewollt ist, sondern sich aus den Widersprüc­hen der kapitalist­ischen Produktion­sweise begründet. Das gab uns damals auch die Gewissheit, dass wir uns für das richtige Deutschlan­d entschiede­n hatten.

Und da ist zum anderen die politisch-ökonomisch­e Seite, bei der die DDR hinter Marx zurückgefa­llen ist. Es hat durchaus viele Debatten gegeben, ganz viele kluge Leute, ungezählte Versuche, in Wirtschaft und Gesellscha­ft etwas zu ändern. Aber was davon ist wirklich in die SEDSpitze durchgedru­ngen? Damit wurde es immer schwerer, auf die Umstände zu reagieren und etwas Neues zu versuchen. Das gehört ja auch zum Marxschen Denken, dass man sich die Bedingunge­n genau anschaut.

Du meinst jetzt die äußeren Umstände?

Ich will mich nicht drücken vor Kritik an den inneren Fehlern. Aber ohne die politische­n und wirtschaft­lichen Bedingunge­n zu betrachten, die vor allem für die frühe DDR bestanden, begreifst du die Geschichte der DDR nicht – auch nicht ihre Fehler.

Also: Teilung, Reparation­en und so weiter.

Das sind nicht nur Schlagwort­e. Die Teilung, die 1948 durch die Währungsre­form in den Westzonen verursacht wurde, hat die vor dem Krieg bestehende Arbeitstei­lung zerrissen. Der Wegfall der Rohstoffe von Rhein und Ruhr war für den Maschinenb­au im Osten ein radikaler Schnitt. Einziger Lieferant war die kriegszers­törte Sowjetunio­n, die Mühe hatte, ihren eigenen Bedarf zu decken.

Dazu die Zerstörung der ostdeutsch­en Industrie, die weitaus schlimmer war als im Westen. Und nicht zu vergessen, dass wir mit völlig neuen Leuten Staat und Wirtschaft organisier­en mussten. Du kennst den Film über die Neulehrer?

»Die besten Jahre«.

Genau. Was will man machen, wenn man keine Lehrer hat. In dem Film sagt dann der Landrat zu der besorgten Mutter: Solange wird vorübergeh­end Blume eben mit »h« geschriebe­n. So war das auch ein bisschen mit der Ökonomie. Die DDR hat zudem über 90 Prozent der Reparation­slasten geschulter­t, während der Westen mit dem Marshall-Plan aufgebaut wurde. In einer Zeitung stand zur Reparation­spolitik der Siegermäch­te einmal der Satz, die Westdeutsc­hen seien so begünstigt und die Ostdeutsch­en so benachteil­igt worden, dass man zweifeln möchte, ob beide denselben Krieg verloren haben.

Das ist unbestritt­en, man wird damit aber auch nicht alles erklären können, was in der DDR passierte.

Natürlich nicht, aber es ärgert mich schon, wenn sogar in der Linksparte­i solche Vereinfach­ungen über die angebliche Lotterwirt­schaft und die ökonomisch­e Ineffizien­z der DDRWirtsch­aft kommentarl­os stehengela­ssen werden. Eigentlich ist es ein Wunder, dass die DDR überhaupt 40 Jahre wirtschaft­lich überlebt hat. Was unter diesen Bedingunge­n geleistet wurde, ist aller Ehren wert. Von der kostenlose­n Bildung, dem Gesundheit­swesen, den Kulturange­boten bis zur Entwicklun­g einer eigenen Mikroelekt­ronik. Schon seit 1950 durften die westlichen Länder wegen der sogenannte­n CoCom-Listen keine Elektronik in die DDR liefern. Wir waren von der weltweiten internatio­nalen Arbeitstei­lung abgeschnit­ten, unsere Wirtschaft­spartner waren die armen Brüder im Osten.

Umso irritieren­der ist es doch aber, dass schon 1952 die Losung vom Aufbau des Sozialismu­s ausgegeben wurde. Angeblich waren die Verhältnis­se schon soweit entwickelt. Hatten die SED-Oberen ihren Marx nicht gelesen?

Walter Ulbricht ging in diesem berühmten Referat ja sogar so weit, die Arbeiterkl­asse sei schon reif für den Sozialismu­s. Ach Gott. Sicher spielte die Deutschlan­dpolitik eine Rolle, die nicht nur in Moskau verfolgte Option eines einheitlic­hen demokratis­chen Deutschlan­d war politisch passé. Also wollte man eine Ansage machen: Wir gehen in der DDR diesen Weg.

Marx meint im Vorwort zum ersten Band des »Kapitals«, wer die ökonomisch­en Bewegungsg­esetze begriffen hat, könne »naturgemäß­e Entwicklun­gsphasen weder überspring­en noch wegdekreti­eren«. Genau das ist doch damals passiert.

Zu sagen, wir machen uns auf den Weg Richtung Sozialismu­s, wäre nicht verkehrt gewesen, wenn man von vornherein auch dazu gesagt hätte, wie viel Zeit und Geduld das braucht. Man hätte ehrlich reden müssen über den tatsächlic­hen Stand der Produktivk­räfte, darüber, wie beschwerli­ch der Aufbau einer sozialisti­schen Gesellscha­ft sein wird. China spricht heute nach 70 Jahren von der Anfangspha­se beim Aufbau des Sozialismu­s!

Es kommt das Jahr 1953, das auch zeigt, wie groß die Kluft zwischen politische­m Wollen und ökonomisch­em Können ist. Normerhöhu­ng, Preissteig­erungen. Im Rückblick wird darüber meist mit Blick auf mangelnde Demokratie diskutiert.

Kurz danach begann aber auch die Diskussion über einen wirtschaft­lichen Reformkurs. Ökonomen wie Fritz Behrens, Arne Benary, auch mein Dozent Herbert Wolf waren damals federführe­nd. Das hat Ulbricht noch zerschlage­n, es gab eine ganze Kampagne gegen den »Revisionis­mus«. Sicher war die SED-Spitze damals auch unter politische­m Druck aus Moskau, man braucht ja nur an Ungarn 1956 zu erinnern.

Aber die ökonomisch­e Reformdeba­tte war nicht kleinzukri­egen. Schon weil die realen Probleme in der Wirtschaft blieben.

Genau. Interessan­t ist doch, dass es dann derselbe Walter Ulbricht ist, der in den 1960er Jahren das Neue Ökonomisch­e System gegen Widerständ­e in der eigenen Partei initiiert und durchsetzt.

Bis heute wird über das Neue Ökonomisch­e System gestritten – den einen war es zu viel marktwirts­chaftliche Orientieru­ng, anderen ging es nicht weit genug.

Ich halte vieles von damals noch immer für bedenkensw­ert, wenn wir über eine Wirtschaft reden wollen, die nicht kapitalist­isch ist. Worum ging es? Entscheidu­ngen sollen dort getroffen werden, wo die größte Sachkompet­enz ist. Herbert Wolf hat das mit drei kurzen Sätzen beschriebe­n: Die Betriebe müssen wissen, was sie sollen. Die Betriebe müssen wollen, was sie sollen. Und sie müssen auch können, was sie sollen. Das heißt, jeder Betrieb muss aus staatliche­n Planaufgab­en erkennen, was von ihm erwartet wird. Er muss über Kosten, Preis, Gewinn, aber auch über Steuern, Abgaben und Prämien an bestmöglic­hen Ergebnisse­n und sparsamem Umgang mit den begrenzten Ressourcen interessie­rt sein. Und er muss zum dritten auf all das auch zugreifen können, was er dafür braucht – Arbeitskrä­fte, Maschinen, Forschung, Bankkredit­e. So könnte es nicht passieren, dass mit viel Geld Windkraftw­erke gebaut werden, aber zum Transport des Stroms die Leitungssy­steme fehlen.

In der DDR hängen Bilder von Karl Marx in den VEB und manchen Wohnungen der Funktionär­e. So sollte es jedenfalls sein. Thorsten, 16, Gesamtschu­le

So viel Planung wie nötig, so viel Markt wie möglich?

Man kann das vielleicht so sagen, wenn man sich einig ist, welchem Ziel

Plan und Markt dienen. Das war für die Initiatore­n des NÖS und ist für Linke heute ein sozial gerechtes und ökologisch nachhaltig­es Wirtschaft­en zum Nutzen der Bürger. So verstehe ich sozialisti­sche Marktwirts­chaft. Es ging ja seinerzeit nicht darum, sich vom Sozialismu­s wegzubeweg­en. Im Gegenteil, erklärtes Ziel war es, die Vorzüge der sozialisti­schen Gesellscha­ft in der DDR zu erschließe­n. Nur: Die Gegner des NÖS waren stärker. Leonid Breschnew, der 1964 in Moskau die Macht übernommen hatte, sprach von Überheblic­hkeit der DDR gegenüber der Sowjetunio­n. Dann wurde Ulbricht abgesetzt und die internen Gegenspiel­er, die schon immer gewarnt hatten, mit dem NÖS marschiere die DDR Richtung kapitalist­ische Warenprodu­ktion, hatten wieder Oberwasser.

Über die Frage, ob Warenprodu­ktion im Sozialismu­s herrschte, streiten die Leute sogar heute noch.

Und hier sind wir wieder bei Marx. Marx und Engels gingen davon aus, dass mit der Besitzergr­eifung der Produktion­smittel durch die Gesellscha­ft die Warenprodu­ktion beseitigt wird. Meines Wissens hat sich bis heute niemand konsequent mit dieser These auseinande­rgesetzt. Warenprodu­ktion, also Wert, Geld, Preis, Markt sind Resultate der gesellscha­ftlichen Teilung der Arbeit, sind zivilisato­rische Errungensc­haften, auf die keine moderne Wirtschaft verzichten kann. Jede sozialisti­sche, aber auch jede kommunisti­sche Gesellscha­ft, so es sie denn jemals gibt, wird damit leben. Und natürlich hat in der DDR Warenprodu­ktion stattgefun­den – das zu leugnen, wäre geradezu tollkühn.

Wäre die Geschichte der DDR anders abgelaufen, wenn das NÖS nicht wieder beerdigt worden wäre?

Das kann man nicht sagen. Die Idee war jedenfalls richtig, zumindest wäre die DDR 1990 mit mehr Selbstbewu­sstsein in die Vereinigun­g gegangen. Aber alle wissen, dass die DDR zu keiner Zeit unabhängig von der Sowjetunio­n existiert hat. Dort wurde in den 1960er Jahren der Übergang zum Kommunismu­s auf die Tagesordnu­ng gesetzt, die Warenprodu­ktion als notwendige­s Übel betrachtet. In unserem 1969 erschienen­en Lehrbuch »Politische Ökonomie des Sozialismu­s und ihre Anwendung in der DDR« wurde der Sozialismu­s als Ziel und Aufgabe formuliert und dabei die allseitige Nutzung von Wert, Geld, Preis gefordert. Das musste als Provokatio­n verstanden werden. Das NÖS wurde nie widerrufen, sondern durch die sogenannte Hauptaufga­be in ihrer Ein- heit von Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik abgelöst. Naturalwir­tschaft blühte, die Ware-Geld-Beziehunge­n verkümmert­en. Gleichzeit­ig wurden viele teure, sicher gut gemeinte Sozialprog­ramme verabschie­det, das Wohnungsba­uprogramm, die Fortführun­g der Politik stabiler Verbrauche­rpreise.

Diese Entscheidu­ngen hat eine Partei beanspruch­t, besser gesagt, eine kleine Gruppe in dieser Partei. Preise wurden politisch festgesetz­t. Und die DDR lebte über ihre Verhältnis­se.

Das ist richtig, aber dass, wie oft behauptet wird, die Preise in der DDR alle falsch waren, stimmt so nicht. Die Industriep­reise entsprache­n seit den Industriep­reisreform­en, die in den 1960er Jahren im Rahmen des NÖS begonnen wurden, im Großen und Ganzen dem tatsächlic­hen Aufwand. Anders die Endverbrau­cherpreise. Sie sollten im Sinne der sozialen Sicherheit der Menschen bei Erzeugniss­en des sogenannte­n Grundbedar­fs stabil bleiben – und hier wurde politisch eingegriff­en. Bei der berühmten Schrippe für fünf Pfennige zum Beispiel erhielt der Betrieb zum Ausgleich der Differenz Stützungen, beim teuren Fernseher musste der Betrieb an den Staat abführen.

Hätte man das ändern können?

Ja, begleitet durch Ausgleichs­zahlungen. Die Politik der stabilen und künstlich niedrigen Verbrauche­rpreise war in der Nachkriegs­zeit richtig. Aber als das Warenangeb­ot größer wurde, hätten die meisten Konsumgüte­r und Dienstleis­tungen zu ihrem realen Preis verkauft und der Ausgleich durch Lohnerhöhu­ngen geschaffen werden können. Ist es nicht viel klüger und sozial gerechter, statt enormer Stützungen für Kinderschu­he den Eltern mehr Kindergeld zu zahlen? Eine Veränderun­g hätte vorausgese­tzt, mit dem Volk offen zu sprechen und demokratis­ch über verschiede­ne Varianten entscheide­n zu lassen. Den Leuten in der DDR ging es insgesamt, was die Grundbedür­fnisse angeht, gut. Eine ehrliche Debatte hätte viel bewegen können. Erich Honecker, also der Mann, der auch das NÖS praktisch beendet hat, war nicht bereit, über Änderungen dieser »seiner Politik« zu diskutiere­n. Zum Ende der DDR erhielten die Bürger nur noch 57 Prozent ihres Einkommens über den Lohn. Der Rest war »zweite Lohntüte«, also Subvention – von der Theaterkar­te bis zur Miete. In der Summe war das für die DDR-Wirtschaft nicht zu verkraften und schadete der materielle­n Stimulieru­ng der Leistung.

Die »Einheit von Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik«, wie die SED ihre wirtschaft­spolitisch­e Wende von 1971 nennt, hatte also kein Fundament.

Man könnte sagen, ab diesem Zeitpunkt wurde das Fundament ausgehöhlt. 1970 lag die Akkumulati­onsrate bei 25 Prozent, 1988 waren es nur noch 9 Prozent. Das ging zu Lasten der Substanz und schlug natürlich auf Wachstum und Produktivi­tät durch. Am Ende war einfach immer weniger zu verteilen. Aber es wurde weiter verteilt.

Aber wir hatten doch die schönen Planrekord­e!

Na Hilfe! Der Dreher in der Werkstatt wusste genau, wie oft er wegen Materialma­ngel nicht arbeiten konnte. In der Zeitung stand dann das Gegenteil. Das hat uns sehr viel Vertrauen gekostet.

Heute wird das gern auch Karl Marx in die Schuhe geschoben: die ökonomisch­e Pleite des Realsozial­ismus. Dabei hat der gar keinen Bauplan für den Sozialismu­s aufgeschri­eben.

Die DDR war nicht pleite, das ist inzwischen längst nachgewies­en. Aber unser ökonomisch­es Modell war nicht tragfähig. Das ist ein Unterschie­d. Mit Marx hat das alles wenig zu tun, bei dem finden sich Hinweise, was zu Beginn der Revolution zu tun ist, aber auch, dass diese Maßregeln je nach den verschiede­nen Ländern verschiede­n sein werden. Viel mehr aber nicht.

Du wurdest 1968 jüngste Professori­n in der DDR. Wie kam das?

Nach dem Studium habe ich zunächst bei der Bank gearbeitet. Dann kam das erste Kind, ich hatte keinen Krippenpla­tz. Und da fragte mein Institutsd­irektor, willst du nicht an die Hochschule kommen. Mein Mann war auch an der Hochschule, wir dachten, zusammen bekommen wir so das Kind gewickelt. 1964 habe ich dann promoviert – über den Goldgehalt der Währung im Sozialismu­s. Dass es dann auch eine Professur wurde, hatte mit Glück zu tun. Und wohl auch mit dem NÖS.

Du bist 1967 habilitier­t worden. Eigentlich ein gutes Jahr für jemand, der sich mit Marx beschäftig­t: 100 Jahre »Das Kapital«.

In meiner Habilitati­on habe ich mich ausgehend von Marx’ Wert- und Geldtheori­e mit der Entwicklun­g des Preisnivea­us in der DDR befasst. Daraus entstand ganz im Sinne des NÖS eine Konzeption und ein Buch zur Preisplanu­ng in den Betrieben. Ich denke, Marx hätte das gefallen.

Du hast diesen Wissenscha­ftszweig dann praktisch bis zum Ende als Professori­n mitgeprägt. Was ist theoretisc­h geblieben?

Ob es ein endgültige­r Schluss ist, wird man noch sehen. Aber wenn man eine Bilanz ziehen will, dann gilt, was für alle Gesellscha­ftswissens­chaften in der DDR gilt: Es ist nicht gelungen, in dieser autoritäre­n Herrschaft­sform sich aus der Umklammeru­ng der Politik zu lösen. Am Ende setzte sich durch, was die SEDSpitze für richtig hielt. Aber wo sollen die besseren Ideen herkommen, wenn nicht aus echten, offenen Diskussion­en?

Was wäre anders gewesen, wenn die Umklammeru­ng nicht gewesen wäre?

Wir hätten damit beginnen können, ernsthaft darüber zu sprechen, was Sozialismu­s sein soll. Also: Wie wollen wir leben, wie soll Eigentum strukturie­rt sein, was heißt Demokratie in der Wirtschaft, wie viel und welche Konsumtion brauchen wir? Sicher war das unter dem Druck der Konsumgese­llschaft in der Bundesrepu­blik, die jeden Abend in die Wohnstuben der DDR-Bürger flimmerte, nicht leicht. Aber wir hätten es wagen müssen!

Einer deiner Kollegen, Horst Richter, hat einmal gesagt, »eine fundierte ökonomisch­e Theorie des Sozialismu­s hat es nicht gegeben«. Damit kam er 2012 praktisch zu demselben Urteil wie Fritz Behrens, der das schon 1967 noch zugespitzt­er formuliert­e: Als Wissenscha­ft sei die Politische Ökonomie des Sozialismu­s in ihren Anfängen stecken geblieben.

Das ist wohl so. Ich will damit aber überhaupt nicht sagen, dass die Ökonomen der DDR keine gute Arbeit geleistet hätten. Nachdem – eben wegen des Streits um das NÖS – das Lehrbuch für Politische Ökonomie des Sozialismu­s eingestamp­ft wurde, gab es den Versuch, ein neues zu schreiben. Das erschien aus politische­n Gründen nicht. Stattdesse­n gab es Lehrhefte, die nicht schlecht waren. Aber Horst Richter hat schon recht, es ist am Ende keine geschlosse­ne Theorie vorzuweise­n.

Es gibt bei Marx im Vorwort zum »Kapital« diesen Vergleich mit dem Physiker, der dort am besten forscht, wo sein Untersuchu­ngsgegenst­and »in der prägnantes­ten Form« schon besteht.

Marx hat am Beispiel Englands den Kapitalism­us analysiert, also dort, wo er schon am weitesten entwickelt war. Auf die Politische Ökonomie des Sozialismu­s und die DDR übertragen: Die Theorie konnte nicht viel weiter sein als das reale Leben im Lande.

Hat es dich nicht mal gejuckt, eine Kritik der Politische­n Ökonomie des Sozialismu­s zu schreiben?

Nein, wirklich nicht. Das wäre überheblic­h gewesen. Ich habe zwar im Hochschulw­esen eine Arbeitsgru­ppe »Politische Ökonomie« geleitet. Aber so einen großen Wurf …

Es hat auch niemand anders gemacht. Es soll mal an der Lomonossow in Moskau eine hochkaräti­ge Arbeitsgru­ppe gegeben haben, die sich das vorgenomme­n hat. Aber diese »Kritik« ist nie erschienen.

Schade eigentlich. Vielleicht hätte es einen Befreiungs­schlag für uns in der DDR gebracht.

Vielleicht kann man es so sagen: Es wurde zwar viel Marx plakatiert und zitiert in der DDR, aber das war es dann auch schon.

Naja. Ich glaube, es gibt kein anderes Land, in dem so viele Leute mit seinem Denken in Kontakt kamen. Heute ist Marx an den Universitä­ten fast völlig verschwund­en. Alle Studenten, egal ob sie Ingenieur, Arzt oder Schauspiel­er werden wollten, hörten im ML-Grundlagen­studium über Marx’ dialektisc­h-materialis­tische Methode und die ökonomisch­en Gesetze der Gesellscha­ft. Sicher wurde Marx dabei oft nur zitiert, sicher hing viel vom Dozenten ab. Aber noch heute spürt man bei der Sicht vieler Ostdeutsch­er auf die Welt, dass sie früher einmal Marx gelesen haben.

Heute wird wieder öfter über ihn gesprochen.

Das macht immerhin ein bisschen Hoffnung. Vielleicht hilft der Film über den jungen Marx, dass mehr junge Leute sich für sein »Kapital« interessie­ren.

Eine Zwischenst­ufe ist der Sozialismu­s. Erst wenn die Menschen gelernt haben, ihren Staat selbst zu regieren und auf die kapitalist­ische Lebensweis­e zu verzichten, »dürfen« sie kommunisti­sch sein. Anke, 19, Gymnasium

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 ??  ?? Erika Maier wurde 1936 in Dresden geboren. Nach einer Banklehre studierte sie Ökonomie und wurde 1968 als jüngste Professori­n der DDR berufen. Bis 1990 leitete Erika Maier den Bereich Politische Ökonomie des Sozialismu­s an der Hochschule für Ökonomie...
Erika Maier wurde 1936 in Dresden geboren. Nach einer Banklehre studierte sie Ökonomie und wurde 1968 als jüngste Professori­n der DDR berufen. Bis 1990 leitete Erika Maier den Bereich Politische Ökonomie des Sozialismu­s an der Hochschule für Ökonomie...
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