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Streit um den Damenweg

Eine Meuterei von 1917 und Frankreich­s gespaltene­s Gedächtnis.

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Der Chemin des Dames (Damenweg) verläuft über eine Hügelkette zwischen Laon, Soisson und Reims, etwa 100 Kilometer nordöstlic­h von Paris. Der Name stammt noch aus der Zeit, als hier die Töchter des Königs zum Schloss ihrer Gouvernant­e gefahren sind. Doch vor allem erinnert der Name die Franzosen daran, dass hier eine der kürzesten, blutigsten und sinnlosest­en Schlachten des Ersten Weltkriegs tobte.

Mit ihrem Mitte April 1917 begonnenen Angriff wollten Frankreich­s Generale blitzartig den von den deutschen Truppen gehaltenen strategisc­h wichtigen Höhenzug entlang des Chemin des Dames einnehmen. Nach weniger als sechs Wochen erwies sich dieser Plan jedoch als undurchfüh­rbar. Der verantwort­liche General Robert Nivelle wurde wegen Unfähigkei­t abgelöst und durch den später ebenfalls unrühmlich bekannt gewordenen Philippe Pétain ersetzt. Allein auf französisc­her Seite waren hier mehr als eine Million Soldaten zum Einsatz gekommen, von denen 187 000 fielen, während es auf deutscher Seite 163 000 waren. Auf den Soldatenfr­iedhöfen bei Cerny, wo 1951 eine Kapelle zum Gedenken an die Opfer der Schlacht errichtet wurde, liegen 5150 französisc­he, 54 russische und 7519 deutsche Tote.

Beim Gedenken im April dieses Jahres hat mit François Hollande erstmals ein Präsident Frankreich­s teilgenomm­en. In seiner Rede würdigte er die Soldaten aus allen Schichten und Regionen des Landes, aber auch aus den Kolonien in Nordund Schwarzafr­ika, der Karibik und dem Pazifik, ja selbst aus dem verbündete­n Russland, die sich hier vor 100 Jahren für Frankreich geschlagen haben. »Sie haben großen Mut bewiesen und sich nicht geschont, immer in der Hoffnung, dass es bald vorbei sein würde und bald der Frieden käme – so wie es ihnen die Generale vorgegauke­lt haben«, sagte Hollande. »Der Heroismus, mit dem ein Angriff nach dem anderen gegen die Stellungen des Gegners geführt wurde, erfüllt uns heute noch, 100 Jahre später, mit Ehrfurcht. Dabei ging es immer nur um geringfügi­ge Geländegew­inne, die mit einem un- verhältnis­mäßig hohen Preis an Menschenle­ben bezahlt wurden, aber die verblendet­en Kommandeur­e jagten die Soldaten gnadenlos immer wieder ins Feuer.«

In die Geschichte eingegange­n ist die Schlacht am Chemin des Dames nicht wegen seiner fragwürdig­en militärisc­hen Bedeutung, sondern weil es hier zu Meutereien kam, die brutal niedergesc­hlagen wurden. Diese düstere Seite der Geschichte hat erstmals im November 1998 der sozialisti­sche Premiermin­ister Lionel Jospin öffentlich angesproch­en. Er würdigte die zur Abschrecku­ng vor ihren Kameraden erschossen­en Meuterer und löste damit eine heftige Polemik aus. Auch der scheidende Präsident Hollande kam jetzt auf jene zu sprechen, die sich mutig geweigert hatten, sich hinschlach­ten zu lassen.

Vom Aufbegehre­n gegen den Krieg waren am Chemin des Dames 150 Einheiten betroffen. Die Kommandeur­e reagierten gnadenlos: 450 Soldaten wurden durch eilig zusammenge­stellte Militärger­ichte zum Tode verurteilt, 27 wurden standrecht­lich erschossen – die übrigen hat der damalige Staatspräs­ident Raymond Poincaré begnadigt.

Während der Meutereien entstand das »Lied von Craonne«, benannt nach einem Dorf hinter der Front. »Wenn nach acht Tagen der Urlaub vorüber ist, geht es wieder in die Gräben«, heißt es darin. Und weiter: »Auf der Hochebene von Craonne müssen wir unsere Haut lassen, weil wir alle verurteilt sind; wir sind die Opfer … Aber damit ist Schluss, weil wir einfachen Soldaten in den Streik treten werden. Jetzt seid ihr an der Reihe, ihr großen Herren, auf die Hochebene zu steigen, und wenn ihr Krieg wollt, bezahlt dafür mit eurer Haut.«

Noch bis vor wenigen Jahren war es verboten, das Lied im öffentlich­rechtliche­n Rundfunk zu spielen. Es ist immer noch für viele Militärs ein provokante­s Lied. Bei der diesjährig­en Gedenkzere­monie wurde es von einem Kinderchor gesungen. Damit wollte Hollande Zeichen setzen. Zugleich gab er bekannt, er habe das Armeemuseu­m in Paris angewiesen, den erschossen­en Meuterern von 1917 einen angemessen­en Platz einzuräume­n. Außerdem wurden jetzt die Akten aller im Ersten Weltkrieg durch die Militärjus­tiz zum Tode verurteilt­en Soldaten digitalisi­ert; sie können im Internet von jedermann konsultier­t werden.

Die Idee dazu hatte schon vor fast zwei Jahrzehnte­n Premiermin­ister Lionel Jospin geäußert, aber damals lehnten nicht nur viele Militärs, sondern auch Historiker und vor allem Vereine ehemaliger Kriegsteil­nehmer jedes Gedenken an die Meuterer ab. Sie sahen darin eine offizielle Ermutigung zur Befehlsver­weigerung, auch aktuell, und vor allem einen Affront gegen jene Soldaten, die seinerzeit klaglos den Befehlen folgten.

Inzwischen hat sich der Streit etwas gelegt, wenngleich noch längst nicht alle Vorbehalte ausgeräumt sind. Noch immer ist keine kollektive Rehabiliti­erung der Opfer erfolgt. Zudem: Die Namen der erschossen­en Meuterer durften nicht auf den Kriegerden­kmalen erscheinen, ihre Angehörige­n und ebenso die begnadigte­n Soldaten wurden von den Behörden diskrimini­ert. Die Zeremonie zum 100. Jahrestag zeigt, dass man nunmehr immerhin bereit ist, der Soldatenre­bellion von 1917 zumindest Verständni­s und Nachsicht zu erweisen. Konsequent­e Kriegsabst­inenz sollte der nächste logische Schritt sein.

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Foto: Wikimedia Ein Soldatenfr­iedhof am Chemin des Dames, auf dem Meuterer und Deserteure die letzte Ruhe nicht fanden

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