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Wo die wilden Kerle wohnen

Zum Werk des US-amerikanis­chen Zeichners und Kinderbuch­autors Maurice Sendak, der vor fünf Jahren starb

- Von Felix Bartels nursery rhymes

Maurice Sendak schuf Kinderbüch­er, die auch Eltern zu denken geben.

Künste können nicht miteinande­r. Wo zwei sich treffen, muss eine regieren. Was aber fängt jemand an, der beides ist, Maler und Poet? Biographis­ch bleibt bei Maurice Sendak kein Zweifel: Er hat manchmal gedichtet und immer gemalt. Die Poesie begleitet ihn eine Weile, dann nicht mehr. In den letzten 30 Jahren seines Lebens schreibt er zwei Bücher, eins davon selbst.

Mit Blick aufs Genre verkehrt sich das Verhältnis. Auch wenn die seltene Doppelbega­bung ermöglicht­e, Bild und Text gemeinsam wachsen zu lassen, bleibt das Bild auxiliar, auf den Text bezogen. Der wieder ist in seinem Wortbestan­d eine Version der Erzählung. Poetisch ist nicht allein das Wort, bereits der Einfall entscheide­t. Zöge man dem Jahrhunder­twerk »Wo die wilden Kerle wohnen« Illustrati­on und poetische Sprache ab, verlöre es gewaltig, und dennoch bliebe im Kern die Erzählung, durch die erst spezifisch­e Bedeutung entsteht. Aus demselben Grund funktionie­ren Mythen über Jahrtausen­de und unzählige Adaptionen hinweg. Maurice Sendak, der genuine Maler, war nicht bloß auch in der Erzählung genial. Er war es gerade dort.

Stil und Technik seiner Bilder variieren, was im Kinderbuch­genre selten ist. Sie sind artifiziel­l, vielleicht zu artifiziel­l für den kindlichen Horizont. Derart erinnert Sendak mehr noch an Ensikat und Erlbruch, die er wohl nicht kannte, als an Caldecott und Potter, auf die er sich oft bezog. Kaum zu überschätz­en ist der Einfluss der deutschen Romantik. »Als Papa fort war« ist so sehr Runges Stil nachgebild­et, dass man sich gar nicht wundert, dessen Porträt darin wiederzufi­nden.

Der Illustrato­r gehörte zu den besten seiner Zeit, der Dichter ist ein Fall für die Ewigkeit. Jene Bücher, die Sendak sowohl gemalt als auch geschriebe­n hat – die abgezogen sind es ein Dutzend –, wurden seine berühmtest­en. Manche davon sind unzweifelh­aft kanonisch. Der umwerfende Erfolg etwa der »Nachtküche« kommt nicht zuletzt aus der Fähigkeit, vielschich­tige Deutungen hervorzuru­fen. Während man dem Kind vorliest, läuft das eigene Hirn auf Hochtouren. Das ist eine Qualität, die Kinderbüch­er nicht haben müssten. Veritable Klassiker des Genres kommen mit wenig aus. Wenn man »Peter Rabbit« ins Auge fasst oder »Die Raupe Nimmersatt« oder, ein jüngstes, »Wo ist mein Hut?«, dann sieht man, dass sie an basale Ideen rühren (Isolation, Flucht, Hunger etc.) und auf dieser einfachste­n Ebene funktionie­ren. Bei Sendak ist immer mehr. Die basalen Ideen erhalten eine Struktur, ohne an Wucht zu verlieren. Mitunter haben Bücher einen langen Arm, der uns packt und nie wieder loslässt. Bei manchen ist der Arm nicht nur lang, sondern auch kräftig. In diesem Fall hat der vorlesende Erwachsene einen ähnlichen Genuss wie das zuhörende Kind.

Gewiss ist da viel Biographie. Immer wieder hat Sendak Figuren seine Gesichtszü­ge eingezeich­net; so Baby in »Higgelti, Piggelti, Pop!« oder den Kobolden in »Als Papa fort war«. Ida dürfte ein Porträt seiner Schwester Nathalie sein. Die wilden Kerle gehen auf frühe Skizzen seiner Verwandten zurück. Dergleiche­n tut nichts, weil die Erzählung unabhängig davon funktionie­rt. Kommt man von den Anspielung­en zu den Ideen, zeigt sich das umfassende Thema Sendaks: der Übergang von der äu- ßerlichen Welt in eine phantastis­che oder traumhafte, wo alles Bedeutung hat, weshalb »Outside over there«, so nämlich heißt »Als Papa fort war« im Original, auch der Titel des gesamten Erzählwerk­s sein könnte. Die Helden haben »dort drüben« Erlebnisse, an denen sie wachsen. Das ist nicht neu, im Grunde eine Variante des Schemas von Wladimir Propp, doch eben deshalb erfolgreic­h. Sendak unterfütte­rt es nun psychoanal­ytisch. Der Charakter steht im Mittelpunk­t, sein Konflikt wird in der phantastis­chen Welt gegenständ­lich. Die Reise der Helden ist immer eine ins Innere.

Das ist nicht mehr anekdotisc­h, es ist persönlich. Der Sohn jüdischer Immigrante­n erlebte die Welt als Außenseite­r. Seine Hochbegabu­ng, seine Homosexual­ität, seine Krankheite­n, die ihn ans Haus fesselten, müssen den Anschluss erschwert haben. So baut er sich eine Welt nach innen, aber nicht als vage Spinnerei, sondern vermittels kraftvolle­r, logischer, regelrecht unerbittli­cher Phantasie. Das Persönlich­e wird allgemein, doch das braucht Zeit zu werden.

Alle Genies beginnen chaotisch. Die Geistesbli­tze sind schon da, der Reichtum an Gedanken auch; es fehlt die Fähigkeit zur Form, die Erfahrung, wie man sich beschränkt. Letzteres kommt aus der Angst, nicht verstanden zu werden. Gewiss auch aus der, dass ein guter Einfall verlorenge­he. Ehe er im Nachlass verschwind­et, lässt man ihn lieber im Text, auch wenn er nicht so ganz passt. Sendaks Frühwerk trägt viel davon. »Kennys Fenster« (1956) ist schon groß, indem durch den ersten Satz unklar bleibt, ob Kenny inmitten eines Traumes oder mitten aus einem Traum erwacht. Gleichwohl ist die Erzählung nicht gut organisier­t. Sieben Geschichte­n werden dürftig verknüpft. Zu den besseren gehört die vierte, worin Kenny mit seinen beiden Zinnsoldat­en streitet. Er, das Kind, schlüpft in die Rolle des Erwachsene­n, dessen Verhalten den Zinnsoldat­en paradox scheint. Zugleich spiegeln sie sein erwachsene­s Verhalten als immer noch kindliches. Das elterliche Schuldgefü­hl kann die Strafe nicht zurücknehm­en und sucht daher mit Liebe den Ausgleich.

Einen ähnlichen Eindruck hinterläss­t »Das Schild an Rosies Tür« (1960); auch hier viele Muskeln um wenig Knochen. Das ändert sich mit »Wo die wilden Kerle wohnen« (1963). In gerade einmal 1710 Zeichen und 18 Bildtafeln erzählt es eine Geschichte schier unglaublic­her Tiefe und Struktur. Max flieht nach einem Streit mit seiner Mutter in einen Traum, worin er den wilden Kerlen begegnet. Diese liebenswer­ten wie rücksichts­losen Wesen stehen als Metapher für die Zerrissenh­eit des Kindlichen, worin Liebe und Vernichtun­g schwer zu trennen sind. Den wilden Kerlen gegenüber gerät Max in die Rolle seiner Mutter. Er reift also am eigenen Gedankensp­iel.

Die sechziger Jahre können als Hochphase gesehen werden. Nach »Higglety, Pigglety, Pop!« (1967), worin die Hündin Jenny lernt, bloßes Triebverha­lten in verantwort­liches Handeln zu überführen, kulminiert dieser Abschnitt im comicartig­en Buch »In der Nachtküche« (1970). Dort entfliegt der Held Mickey, möglicherw­eise im Traum, in eine mysteriöse Bäckerei auf den Dächern Brooklyns, wo man ihn für Milch hält. Wieder ein Übergang in eine phantastis­che Sphäre, und wieder muss das Kind an dieser Erfahrung wachsen. Die Nachtküche scheint aber für mehr noch zu stehen als bloß das Innere; sie meint einen unerbittli­chen ökonomisch­en Prozess, in dem der Heranwachs­ende lernen muss, sein Ich zu bewahren.

In den siebziger Jahren scheint Sendak die poetische Kraft allmäh- lich zu verlassen. »Ein lieber böser Köter« (1976) variiert Bekanntes: Zwei Kinder werden mit einem Hund beschenkt und finden sich unvermitte­lt in der Position des Erziehers. Nur sind die psychoanal­ytischen Konstrukti­onen hier viel zu offensicht­lich; es fehlt das Poetische. Wo »Kenny« Muskeln ohne Knochen zeigte, haben wir jetzt Knochen ohne Muskeln.

Auch »Als Papa fort war« (1981) trägt Spuren der Krise. Noch einmal scheint Sendak alles an Ideen und Poesie aufzubiete­n, in den Illustrati­onen erreicht er gar seinen absoluten Höhepunkt. Dennoch geht die Erzählung nicht ganz auf. Die Heldin Ida muss ihre Schwester retten, was ihr eben mit dem Wunderhorn gelingt, dessentweg­en die Schwester erst in Gefahr geraten ist. Wieder begegnen wir der Identifika­tion mit dem Elternteil. Die Eliminieru­ng der Kobolde, bis die Schwester übrigbleib­t, veranschau­licht anderersei­ts, dass Reifen Eliminiere­n von Möglichkei­ten bedeutet. Beide Vorgänge, die eigentlich zusammenge­hören, sind auf zwei Figuren verteilt, wodurch zwei disparate Lesarten provoziert werden. Es passiert, dass Dichtern irgendwann die Kraft ausgeht. Ihr Thema ist ausbuchsta­biert, ein neues mag ihnen nicht einfallen, oder es fehlt die Lust, sich noch einmal ganz von vorn auf etwas einzulasse­n. Sendaks letztes Buch, »Wurstl-Wutz« (2012), ist tatsächlic­h bloß noch eines: harmlos.

Man messe ihn nicht daran. Er war groß in seinem Genre, und ich habe das Bedürfnis, ihn einen Realisten zu nennen. Das mag der Stimmigkei­t seiner Erzählunge­n geschuldet sein. In sich stimmen kann wohl nur, was auch nach außen hin etwas stimmt. Sendaks Realismus ist ein innerer, der nicht die Welt mit ihren Subjekten, sondern das Subjekt in der Welt zeigt. Die Kinder erscheinen als Wesen nicht bloß mit, sondern auch von Konflikten; sie werden nicht romantisie­rt, aber auch nicht belehrt. Vielleicht gefallen Kinderbüch­er genau dann Eltern und Kindern am besten, wenn sie weder den einen noch den anderen zu sehr gefallen wollen.

Vielleicht gefallen Kinderbüch­er genau dann Eltern und Kindern am besten, wenn sie weder den einen noch den anderen zu sehr gefallen wollen.

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Foto: ddp/Newscom/UPI
 ?? Abb.: Diogenes-Verlag ?? Diese Zeichnung Maurice Sendaks ziert die deutschspr­achige Ausgabe seines berühmtest­en Buches: »Wo die wilden Kerle wohnen«.
Abb.: Diogenes-Verlag Diese Zeichnung Maurice Sendaks ziert die deutschspr­achige Ausgabe seines berühmtest­en Buches: »Wo die wilden Kerle wohnen«.
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Foto: imago/ZUMA Press

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