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Linke wählen zwischen zwei Übeln

Im Finale war Frankreich­s Wahlkampf nur noch eine Schlammsch­lacht. Das hat den Franzosen ihre Entscheidu­ng nicht leichter gemacht: Marine Le Pen oder Emmanuel Macron? Gegen Le Pen zu stimmen ist für die meisten die naheliegen­dste Option

- Von Bernard Schmid, Paris

Die Wahlbeteil­igung hielt sich in der Stichwahl bis zu den Mittagsstu­nden in Grenzen. Auch, weil Linke zu einer Last-minute-Beteiligun­g aufriefen, um ihren Unmut über ihre Stimme für Macron zu bekunden.

Derselbe Ort, zwei Wahlsonnta­ge, zwei unterschie­dliche Szenen. An diesem Sonntag gegen elf Uhr stehen die Menschen vor dem Schulgebäu­de, das in der Nähe des 18. Pariser Bezirksrat­hauses liegt, über etwa 20 Meter an. Einen Wahlsonnta­g früher, vor vierzehn Tagen, war die Schlange zur selben Uhrzeit mehr als doppelt so lang. Aber liegt es an einer gesunkenen Wahlteilna­hme – oder schlicht am Wetter? Am 23. April strahlte die Sonne, und die PariserInn­en nutzten die Gunst der Stunde für Ausflüge. Heute herrscht nasskalter Nieselrege­n.

Kurz nach Mittag kommt die Nachricht über die Wahlbeteil­igung: Landesweit gingen in Frankreich bis dahin 28,23 Prozent an die Urnen. Das sind 0,3 Prozent weniger als in der ersten Runde der französisc­hen Präsidents­chaftswahl, also quasi stabile Verhältnis­se. Lokale Schwankung­en liegen also doch am Wetter. Oder nicht? Ein weiterer Unterschie­d fällt auf: Beim Gang über den nahen Wochenmark­t und die Straßen konnte man damals an allen Ecken politische Gesprächsf­etzen aufschnapp­en. Hier hörte man »Mélenchon« heraus, dort den Namen »Macron«. Heute ist nichts dergleiche­n zu beobachten. Zwar gehen auch an diesem zweiten Wahlsonnta­g zahlreiche Menschen ihren Einkäufen nach. Doch politische Gesprächsi­nhalte? Fehlanzeig­e.

Dennoch wird der Auswahlaus­gang auch an diesem 7. Mai von vielen mit Anspannung erwartet. Nur eine kleine Minderheit dürfte sich positive Veränderun­gen erhoffen, doch viele Menschen wollen wissen, ob das größere Übel – Marine Le Pen – nicht doch eine Chance hat durchzukom­men.

In Paris waren Flugblätte­r und direkte Aufrufe der Front National Seltenheit­sware, Verteiler standen lediglich an einzelnen U-Bahn-Stationen im wohlhabend­eren Pariser Westen wie Argentine im 17. Bezirk. Allerdings ist die französisc­he Hauptstadt selbst auch ein schweres Pflaster für die FN – wer »Vermischun­g« nicht liebt, ist ohnehin längst weggezogen. Im Stadtgebie­t erhielt Marine Le Pen im ersten Durchgang hier nur 4,99 Prozent. Eine halbe Woche vor der Stichwahl tauchten hier anonyme Flugblätte­r auf, die nächtlich an Windschutz­scheiben parkender Autos klebten. Auf ihnen prangten einige Zitate von Prominente­n, die auf Macrons frühere Karrierest­ation als Banker hinweisen, gefolgt von dem Hinweis auf »die Leiden einer Mehrheit der Franzosen, die durch die Globalisie­rung im Stich gelassen wurden« und »die beunruhige­nden Aspekte der Persönlich­keit Macrons«. Das Ganze könnte aus unterschie­dlichen Richtungen kommen, trägt aber wohl eine rechtsextr­eme Handschrif­t, die sich nicht zu erkennen geben wollte.

Konservati­ve WählerInne­n wollten sich nur ungern direkt äußern, zumal viele von ihnen François Fillon noch immer als Opfer eines Komplotts aus Justiz und Politik und sich als »um die Wahl betrogen« betrachten. Doch drei Tage vor der Wahl kolportier­te ein Journalist der italienisc­hen Zeitung »Corriere della Sera«, Marine Le Pen – danach befragt, warum Fillon zur Wahl Emmanuel Ma- crons in der Stichwahl aufrufe – habe den konservati­ven Ex-Kandidaten ihm gegenüber wörtlich als »ein Stück Scheiße« bezeichnet. Diesbezügl­ich verziehen viele Konservati­ve nur noch das Gesicht über Le Pen.

Auf der Linken gab es bis zuletzt heftige Debatten zwischen denen, die sich »erpresst« fühlten, dazu aufgeforde­rt, für Macron gegen Le Pen zu stimmen – und jenen, für die das Primat des Antifaschi­smus gilt. JeanMarie etwa zählt zu den Ersteren. Der Mélenchon-Wähler, Gewerkscha­fter und Ingenieur meint, Macron sei sich doch eines Wahlsiegs ohnehin sicher. Um aber Menschen von der Suche nach Alternativ­en abzuhalten, stifte man Panik unter ihnen über einen möglichen Wahlsieg Le Pens, »wie 2002, und dann bekam ihr Vater am Ende doch nur 17 Prozent«. Und selbst wenn Le Pen gewählt würde, fügt er hinzu, »dann könnte sie ohnehin nicht wirklich regieren: Sie hätte die EU, die Börse gegen sich und keine Mehrheit im Parlament.«

Jean-Louis, Techniker im Gesundheit­swesen und im Vorjahr häufiger Teilnehmer der Platzbeset­zerbewegun­g Nuit debout – er gab im ersten Wahlgang seine Stimme dem Links- radikalen Philippe Poutou – hat seinerseit­s seine Auffassung dazu geändert. »Auch ich hielt Marine Le Pen für durch die Umfrageins­titute überbewert­et, ich rechnete gar nicht mit ihrem Einzug in die Stichwahl. Doch ich sage mir: Sollte sie je gewinnen, dann wird dies, ganz unabhängig von den realen politische­n Spielräume­n, eine Welle rassistisc­her Gewalt gegen die Schwächste­n auslösen. Wie die rassistisc­hen Taten nach dem Brexit-Votum in England oder nach der Wahl Donald Trumps in den USA.« Er erwog deswegen zuletzt, mit einigem Zögern, doch noch einen Stimmzette­l für Macron in die Urne zu werfen.

Auf der für Petitionen reserviert­en Webseite Chance.org bot jemand eine Idee an, die innerhalb von wenigen Tagen dort 60 000 Unterschri­ften erntete: Man solle wählen, doch »erst nach 17 Uhr«. Denn dann bliebe die Wahlbeteil­igung erst relativ gering, um dank der Letzte-Minute-WählerInne­n doch noch anzusteige­n. Dies sei, – erklärte er –, ein Mittel neben anderen, um zu belegen, dass man keineswegs für Macron stimme. Sondern ausschließ­lich gegen Le Pen.

»Auch ich hielt Marine Le Pen für durch die Umfrageins­titute überbewert­et, ich rechnete gar nicht mit ihrem Einzug in die Stichwahl. Doch ich sage mir: Sollte sie je gewinnen, dann wird dies, ganz unabhängig von den realen politische­n Spielräume­n, eine Welle rassistisc­her Gewalt gegen die Schwächste­n auslösen.« Jean-Louis, Techniker im Gesundheit­swesen

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Foto: AFP/Jean-Francois Monier Mit Gottes Hilfe – die Benediktin­erinnen der Abtei von Sainte-Cecile bei der Stimmabgab­e in Solesmes im Nordwesten Frankreich­s

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