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»Auschwitz hat mich gerettet« Sie trafen laut Transportl­iste am 26. April 1945 aus dem KZ Ravensbrüc­k in Wöbbelin ein. Was erwartete Sie dort?

Die mörderisch­e Odyssee des Holocaust-Überlebend­en Natan Grossmann

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Herr Grossman, Sie wurden in der Nähe von Łódź als Kind jüdischer Eltern geboren. Welche Erinnerung­en haben Sie an Ihre Kindheit?

Ich wurde 1927 in Zgierz bei Łódź geboren. Ich hatte einen vier Jahre älteren Bruder. Mein Vater war ein armer Schuster. Ich bin in die Volksschul­e gegangen. Dort waren nur jüdische Kinder. Nachmittag­s besuchten wir die Bibelschul­e.

Der Krieg brach am 1. September 1939 aus. Ich war zwölf Jahre alt. Damals endete meine Kindheit. Nach Einmarsch der Deutschen musste die jüdische Bevölkerun­g die Stadt verlassen. Wir wurden in das Ghetto von Łódź zwangsumge­siedelt.

Wie waren Sie dort untergebra­cht?

Meine Mutter hatte eine Schwester. Sie wohnte in dem Gebiet, in dem die Nazis das Ghetto errichtete­n. Wir zogen zu ihr. Wir, das waren meine Eltern, mein Bruder Ber und Großvater. Das Ghetto Łódź, nach deutscher Umbenennun­g Litzmannst­adt, hatte eine jüdische Verwaltung, jüdische Polizei und eigenes Geld. Gefährlich war es, an den Zaun zu gehen. Dort wurde geschossen. Der Zaun bestand nur aus Draht und Brettern.

Die meisten Menschen im Ghetto sind verhungert. Meine Mutter arbeitete für die Wehrmacht und bekam ein paar Talons für etwas Essen. Wahrschein­lich hat sie mir den größten Teil der Nahrung gegeben. Sie ist im September 1942 verhungert. Ich habe das Totengebet für sie gesprochen. Für meinen Vater Avram konnte ich das Kaddisch nicht beten. Ich sah ihn nicht mehr wieder, nachdem er in das sogenannte »Rote Haus« einbestell­t worden ist, in dem Juden peinlichst verhört wurden, bis sie Verstecke von Gold und Diamanten verrieten. Mein Vater konnte nichts verraten, weil wir bettelarm waren und keine Wertsachen besaßen. Meine Mutter sagte eines Tages zu mir: »Du hast keinen Vater mehr.«

Und dann begannen auch schon die Deportatio­nen?

Bereits im März 1942 gab es Razzien im Ghetto. Die Deutschen verlangten, dass sich die Kinder und die Alten melden. 10 000 Menschen sollten angeblich auf »Erholung« geschickt werden. Sie kamen nach Chelmno, deutsch: Kulmhof. Ein Vernichtun­gslager. In dieser Zeit verschwand mein Bruder. Er war Mitglied des Allgemeine­n Jüdischen Arbeiterbu­nds, kurz »Bund« genannt, hat sich in deren Jugendorga­nisation engagiert.

Und Sie wurden dann nach Auschwitz deportiert.

Später. Mich hat Auschwitz-Birkenau gerettet.

Das Lager, das Symbol für den millionenf­achen Judenmord wurde?

Da muss ich etwas ausholen: Durch meinen Bruder Ber kannte ich einen Schlosser, der auch im »Bund« aktiv war. Er arbeitete in der Metallfabr­ik im Łódźer Ghetto und brachte mich in der Schmiede unter, wo wir eine zusätzlich­e Mahlzeit erhielten, wenn auch nur eine dünne Suppe. Wir stellten Stangen zum Aufbrechen von Eis für die Wehrmacht her. Aus dem Abfall fertigten wir Bajonette. Sie sollten zu unserer Verteidigu­ng dienen, wenn die Deutschen das Ghetto »liquidiere­n« würden. Es wurde im August 1944 geräumt. Kurz zuvor erfolgte meine Deportatio­n nach AuschwitzB­irkenau. Wir mussten uns entspreche­nd der Betriebe, in denen wir gearbeitet hatten, zum Abtranspor­t bereitfind­en. Die Rote Armee stand zu diesem Zeitpunkt nur noch hundert Kilometer von Łódź entfernt.

Aber wieso sagen Sie, Auschwitz habe Ihnen das Leben gerettet?

Weil ich sonst in das Vernichtun­gslager Chelmno gekommen wäre. Dort hätten sie mich, wie all die anderen, vergast, eliminiert, verbrannt – weg! Wir waren etwa 1000 Metallarbe­iter, die aus Łódź nach Auschwitz deportiert wurden. Dort, in Birkenau, war ich etwa zwei Wochen. Wir hatten dort nur einen Gedanken: Essen! Wir hungerten fürchterli­ch. Ich habe mich immer nachts, in meinen Träumen, »satt« gegessen. Ich träumte, Mutter kocht.

Bei einem Morgenappe­ll brüllte der Kapo: »Metallarbe­iter drei Schritte raus!« In unserem Block waren überwiegen­d Metallarbe­iter. Wir wurden entlaust und erhielten neue gestreifte Häftlingsk­leidung. Jeder bekam eine Tasche. Darin befand sich ein Brot und eine Dose Marmelade. Ich hätte mich am liebsten gleich über das Essen hergemacht. Man brachte uns dann auf Mengeles Selektions­rampe. Die Älteren sagten: »Sprecht das Kaddisch, das ist unsere Henkersmal­zeit.« Es war aber nicht so. Es kam ein Zug. Die Waggons gehörten der Brüssing AG, einem Automobilw­erk. Wir fuhren ins »Reich«, nach Braunschwe­ig.

Und dort kamen Sie in ein Zwangsarbe­iterlager?

Ja, mit etwa 250 anderen Häftlingen wurde ich in das Außenlager nach Vechelde gebracht. Dort arbeitete ich etwa acht Monate in der Schmiede. Die Bedingunge­n waren besser. Es gab beim Essen sogar Nachschlag. Ich bin langsam wieder zu Kräften gekommen. Anfang April 1945 wurde das Lager aufgelöst. Es folgte der »Todesmarsc­h«, den wir zum größten Teil per Fuß bewältigen mussten, streckenwe­ise wurden wir in einen Zug mit offenen Waggons verfrachte­t. Zwischendu­rch mussten wir mal in Salzgruben arbeiten. Ich weiß nicht, wo das war. Während dieser Zeit erhielten wir kaum Essen.

Wie lange befanden Sie sich auf »Todesmarsc­h«?

Drei Wochen. Es ging über Ravensbrüc­k nach Ludwigslus­t. Wir Häftlinge aus Vechelde konnten den »Todesmarsc­h« durchhalte­n, weil wir etwas kräftiger als andere Leidensgef­ährten waren. Die Bedingunge­n im dortigen Lager waren wieder sehr schlecht. Es gab keine Nahrungsmi­ttel und vor allem kein Wasser. Wie lange hält man ohne Wasser aus? Um Wasser hat man sich geprügelt. Die Schwachen hatten das Nachsehen. Am 2. Mai 1945 wurden das Lager von den Amerikaner­n befreit.

Haben Sie sogleich den Heimweg nach Polen angetreten?

Das wollten wir natürlich. Einige jüdische Jungs, die mit mir in Vechelde waren, requiriert­en bei einem deutschen Bauern einen Leiterwage­n und Pferde. Ich schloss mich ihnen an. Wir fuhren in Richtung Polen. Nahe der Oder nahmen uns die Sowjets aber die zwei Pferde und den Leiterwage­n ab. Wir protestier­ten nicht, unterhielt­en uns mit ihnen noch eine Weile. Sie sprachen polnisch und mir war die russische Sprache nicht fremd. Meine Geburtssta­dt Łódź befand sich lange Zeit unter zaristisch­er Herrschaft. Meine Eltern sprachen zu Hause russisch, wenn wir Kinder sie nichts verstehen sollten. So lernte ich die Sprache. Uns half außerdem ein von den Amerikaner­n ausgestell­ter Ausweis weiter, in dem in englischer, französisc­her, russischer und deutscher Sprache vermerkt war, dass wir aus einem »Konzentrat­ionslager« kamen. Die Häftlingsk­leidung hatten wir natürlich sofort abgelegt und uns Zivilsache­n besorgt. Nur die Häftlingsm­ütze behielten wir.

Marschiert­en Sie, nachdem Ihre Gruppe nicht mehr den Wagen und die Pferde hatte, zu Fuß weiter?

Bei den Sowjets war eine Ärztin, die uns nach Prenzlau in eine Kaserne einwies. Dort bekamen wir erst einmal ordentlich­es Essen. Mit einem Militärtra­nsport ging es dann weiter über Berlin nach Posen. Von dort war es nicht mehr weit bis Łódź. Ich bin zurückgeke­hrt in der Hoffnung, mein Bruder lebt noch. Ich glaubte, ihn dort wiederzufi­nden. Das war leider nicht der Fall. Keiner aus meiner Familie hat überlebt, auch nicht die sechs Geschwiste­r meiner Mutter. Ein Onkel hat in Russland überlebt, ist aber auf dem Weg von dort zurück nach Polen verstorben.

Deshalb blieben Sie nicht in Polen?

Ich war allein und wollte nicht mehr alleine sein. Eine zionistisc­he Grup- pe warb in Łódź für die Auswanderu­ng nach Palästina. Das war damals britisches Mandatsgeb­iet. 1946 brachte uns ein Schiff von Italien nach Haifa. Am See Genezareth gründeten wir einen Kibbuz, entwässert­en Sumpfland, legten Bananenpla­ntagen an.

Heute leben Sie in Deutschlan­d, dem Land der ehemaligen Mörder. Warum?

Ich ging nach Deutschlan­d, um eine durch die widrigen Umstände im Ghetto verursacht­e Krankheit behandeln zu lassen. Im sehr kalten Winter 1942 musste ich mich allein durchschla­gen. Meine Eltern waren bereits tot, mein Bruder blieb verschwund­en. Ich habe auf der Straße gelebt und in nasskalten Kellern geschlafen. Hätte sich der Hausmeiste­r unserer alten Wohnung nicht um mich gekümmert, wäre ich damals erfroren. Als ich im Oktober 1959 nach München kam, fühlte ich mich nicht sehr wohl. Ich hatte mich mit der Entscheidu­ng, deutschen Boden wieder zu betreten, sehr schwer getan. Erst als ich 1966 meine deutsche Frau kennenlern­te, löste sich die Angst.

Über Sie wurde ein Film gedreht. Wie kam es dazu?

Eine Journalist­in fragte mich, ob ich ihr meine Lebensgesc­hichte erzählen würde. Diese erschien dann in einer Zeitung. Die Regisseuri­n Tanja Cummings wurde auf mich aufmerksam. Wir drehten auch am Ort meiner Kindheit, in Łódź. Dort habe ich etwas über meinen Bruder erfahren können. Er ist wahrschein­lich vom »Bund« mit auf einen »Transport« geschickt worden, um Möglichkei­ten für den Widerstand auszuloten. In Chelmno wird er bei Vergasungs­versuchen in einem Lkw gestorben sein.

Während der Dreharbeit­en in Łódź lernte ich Jens-Jürgen Ventzki, Jahrgang 1944, kennen. Er suchte nach Spuren seines Vaters, der SS-Offizier und von 1941 bis 1945 Oberbürger­meister der Stadt war. Er hat ein Buch geschriebe­n, in dem er sich kritisch mit seinem Vater auseinande­rsetzt. Jens und ich sind heute Freunde. Man kann ihn ja nicht für seinen Vater in Haft nehmen. Was ich aber nie akzeptiere­n werde, ist das Leugnen des Holocaust. Darum berichte ich, was mir und meiner Familie angetan worden ist. Nie wieder dürfen solche Bestien wie die Nazis an die Macht kommen.

 ??  ?? Grossmann mit Ramona Ramsenthal­er, Leiterin der Mahn- und Gedenkstät­ten Wöbbelin, am Denkmal für die Opfer vor dem Schloss Ludwigslus­t
Grossmann mit Ramona Ramsenthal­er, Leiterin der Mahn- und Gedenkstät­ten Wöbbelin, am Denkmal für die Opfer vor dem Schloss Ludwigslus­t
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Fotos: Elvira Grossert Gedenkplat­z in Wöbbelin

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