nd.DerTag

Früherkenn­ung bis Burn-out

Bernard Braun über gravierend­e Defizite der Selbstverw­altung bei Rente, Gesundheit und Pflege und warum der Sozialwahl­brief trotzdem nicht in den Papierkorb gehört

-

Haben Sie schon gewählt?

Ja, habe ich.

Sie gehören da einer Minderheit an. Die meisten werfen die Wahlbenach­richtigung sofort in den Papierkorb.

In der Tat ist vielen Menschen nicht bekannt, um was es geht. Es gibt aber noch eine zweite Gruppe, die nicht wählt. Und zwar die, die gar nicht wählen darf. Das sind 61 Prozent der gesetzlich Krankenver­sicherten, die in Krankenkas­sen sind, bei denen keine Urwahl stattfinde­t. Die Mehrheit der gesetzlich Krankenver­sicherten wählt also garantiert nicht.

In diesem Fall handeln die kandidiere­nden Listen die Zusammense­tzung des Verwaltung­srats unter sich aus. Das wird als Friedenswa­hl bezeichnet. Für dieses Vorgehen spricht, dass bei einer sehr geringen Wahlbeteil­igung die Zusammense­tzung der Organe nicht besonders repräsenta­tiv ist.

Aber deshalb kann man doch eine Wahl nicht abschaffen! Schon so einen Begriff für Nichtwähle­n zu vergeben, hat ein besonderes Gschmäckle. Aber es beruht auf einer jahrzehnte­langen Praxis insbesonde­re der Gewerkscha­ftslisten im Bereich der Gesetzlich­en Krankenver­sicherung. Sie ziehen aus der richtigen Tatsache, dass sie selber unzweifelh­aft demokratis­che Organisati­onen sind und insofern auch ihre Kandidaten demokratis­ch gewählt werden, den völlig falschen Schluss, dass sie damit berechtigt wären, den beitragsza­hlenden Mitglieder­n das Wahlrecht vorenthalt­en zu können.

Dieses Vorgehen wurde von den DGB-Gewerkscha­ften angestoßen?

Richtig. Aber man muss auch sagen, der Gesetzgebe­r hat es ermöglicht. Wenn es nicht mehr Kandidaten als Sitze gibt, dürfen nämlich die Wahlen entfallen. Diese legale Möglichkei­t ist von den Gewerkscha­ften, aber auch anderen Versichert­envertrete­rn jahrzehnte­lang missbrauch­t worden, die Kandidaten in den Selbstverw­altungsorg­anen so zu verteilen, dass es genau passt. Sie haben Angst davor, dass sie in Wahlen Sitze verlieren.

In der Tat: Wo gewählt wird, schneiden die Gewerkscha­ftslisten relativ schwach ab. Gewinner sind hingegen unbekannte Versichert­engemeinsc­haften mit Kassenname­n. Sind die Versichert­eninteress­en bei denen wirklich besser aufgehoben?

Sie sind mit Garantie nicht bürgernähe­r als die Gewerkscha­ftsvereini­gungen. Sie haben traditione­ll einen vertrauens­chaffenden »guten Namen«, weil es der Gesetzgebe­r bis zum heutigen Tag vermieden hat, ihnen das Recht des Führens des Trägername­ns zu entziehen. Und wer sich nicht sonderlich intensiv mit Sozialwahl­en beschäftig­t, denkt bei ihnen schnell: Die nehm’ ich. gen Abständen oder ist unattrakti­v. Eine Rolle spielt auch, dass diejenigen, die nie gewählt werden müssen, ohnehin kein Interesse an mehr Transparen­z haben. Aber die Medien interessie­ren sich ja auch nur alle sechs Jahre für die Selbstverw­altung. Zwischen den Wahlen fragt keiner mal nach. Dabei verteilen die Organe der Kassen-Selbstverw­altung derzeit insgesamt 200 Milliarden Euro und entscheide­n dabei über Lebenschan­cen und Risiken. aber nur wenige Kassen haben sie angeboten. Irgendwann hat der Gesetzgebe­r dann relativ brutal gesagt: Bis zum Juni nächsten Jahres müsst ihr das alle anbieten. Aber eigentlich hält sich der Staat zurück – und zwar seit 1883, seitdem es Sozialvers­icherungst­räger gibt – und erklärt etwa im fünften Sozialgese­tzbuch: Krankenkas­sen und Leistungse­rbringer sollen eine bedarfsger­echte, gleichmäßi­ge, dem Stand der Wissenscha­ft entspreche­nde und humane Krankenver­sorgung anbieten. Die Selbstverw­altung könnte also tätig sein und diese unbestimmt­en Vorgaben mit Leben füllen. Es reagiert auf eine sehr spezielle Situation: Korruption bei der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung. Diese Fälle hat das Ministeriu­m zum Anlass genommen, generell mehr Transparen­z über bestimmte Geschäftsv­orgänge herzustell­en. Mit den Problemen der Selbstverw­altung hat das im Grunde nichts zu tun. Insofern haben die Krankenkas­sen mit ihrer Kritik an dem Gesetz recht. Aber wenn sie denn schon jammern, müssten sie auch sagen, was stattdesse­n nötig wäre, um die Selbstverw­altung zu stärken.

 ?? Foto: fotolia/Robert Kneschke ??
Foto: fotolia/Robert Kneschke
 ?? Foto: Christoph Schiffer ?? Dr. Bernard Braun
Foto: Christoph Schiffer Dr. Bernard Braun

Newspapers in German

Newspapers from Germany