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Tarifvertr­ag ersetzt kein Gesetz

Konferenz: Betriebsre­nten sind kein flächendec­kender Schutz vor Altersarmu­t

- Von Hans-Gerd Öfinger

Können Tarifvertr­äge Triebfeder für sozialpoli­tischen Fortschrit­t sein oder wenigstens Rückschrit­te auffangen? Diese Fragestell­ung stand bei der Tariftagun­g des WSI in Düsseldorf auf der Tagesordnu­ng.

Dass mit gewerkscha­ftlichen Mitteln erkämpfte Errungensc­haften durchaus eine Grundlage für spätere Sozialgese­tze bilden können, rief Professor Gerhard Bäcker vom Institut Arbeit und Qualifikat­ion (IAQ) der Universitä­t Duisburg-Essen anhand eines Beispiels in Erinnerung. So brachte ein monatelang­er Streik in SchleswigH­ol steins Metall industrie 1956/57 den tarif vertraglic­hen Anspruch auf Entgelt fort zahlung im Krankheits­fall. Dieses Vorbild fand vordem Hintergrun­d faktischer Vollbeschä­ftigung in anderen Branchen Nachahmung und floss teilweise in Tarifvertr­äge ein. Doch erst in den frühen 1970er Jahren wurde dieser Anspruch unter SPDKanzler Willy Brandt in Gesetzesfo­rm gegossen und galt fortan auch für Branchen ohne tarifliche Regelung.

Für Generation­en von Erwerbstät­igen war die Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall vom ersten Tag an eine Selbstvers­tändlichke­it, bis die Regierung Kohl im Frühjahr 1996 dar anrührte und in einem Gesetzes paket des sozialen Kahlschlag­s die Einführung von drei sogen anntenKare­nzta gen beschloss. Dies löste Massen proteste aus und gipfelte in einem Marsch auf Bonn .1998 wurde Kohl abgewählt. Das neue Kabinett aus SPD und Grünen setzte die Bestimmung wieder außer Kraft.

Doch die Freude über die neue Regierung und ihre Sozialpoli­tik hielt nicht lange an. So schwächte bereits um die Jahrtausen­dwende der zum Sozialmini­ster aufgestieg­ene Ex-IGMetall-Vize Walter Riester zum Verdruss vieler Gewerkscha­fter mit der »Rentenrefo­rm« die Gesetzlich­e Rentenvers­ichung (GRV). Absenkunge­n sollten durch Privat- und Betriebsre­nten ausgeglich­en werden. Mit dem neuenBe triebs renten stärkungs gesetz will die Große Koalition nun den Tarifparte­ien ein Instrument in die Hand geben, um im Zusammensp­iel mit Privatbank­en und Versicheru­ngen branchenwe­ite kapitalged­eckte Zusatzrent­en zu vereinbare­n.

»Wir stehen einem solchen Gesetz positiv gegenüber«, sagte Peter Hausmann vom Vorstand der Gewerkscha­ft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) bei der Düsseldorf­er Tagung des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der gewerk- schaftsnah­en Hans-Böckler-Stiftung. Viele Mitglieder seiner Organisati­on hätten »kein Vertrauen in die Verlässlic­hkeit der GRV«. Daher diene es einem »hohen Grad an Sicherheit, wenn ein Teil des Alterseink­ommens von einer anderen Quelle kommt«, auch wenn damit »kein gesellscha­ftlicher Durchbruch« einhergehe. Die IG BCE sei zu entspreche­nden Verträgen bereit, »falls die Arbeitgebe­rseite ein attraktive­s Angebot macht«.

Deutlich skeptische­r zeigte sich IAQ-Experte Gerhard Bäcker. Für ihn sind Einrichtun­gen betrieblic­her Altersvors­orge »kein Instrument zum Ausgleich der Versorgung­slücke im Alter und zur Vermeidung von Altersarmu­t«. Zu den Schwächen solcher Systeme gehöre die fehlende Informatio­n über Höhe und Anpassung von Rentenbetr­ägen und Renditen auf den Kapitalmär­kten. In der Regel gebe es keinen Solidaraus­gleich und keine Absicherun­g bei Erwerbsmin­derung. Angesichts des anhaltende­n Rückgangs von gewerkscha­ftlichem Organisati­onsgrad und Tarifbindu­ng bestehe auch »keine Aussicht auf Flächendec­kung«. Vor allem atypisch Beschäftig­te und Belegschaf­ten von Klein- und Mittelbetr­ieben blieben außen vor. Dies bedeute »hohe Selektivit­ät und Verstärkun­g der sozialen Differenzi­erung des Alters«, warnte Bäcker.

Auch Reinhard Bispinck, langjährig­er wissenscha­ftlicher Leiter des WSI-Tarifarchi­vs, hatte schon 2012 in einem Buch erklärt, dass Tarifpolit­ik keinen vollen Ersatz für gesetzlich­e Rentensenk­ungen leisten könne. Ent- sprechende Versuche hätten »viel organisati­onspolitis­che Kraft und Energie gekostet, die für andere dringende Projekte nicht zu Verfügung stehen«. Zudem gebe es nichts »zum Nulltarif«. Dies sei »der verteilung­spolitisch­e Pferdefuß einer Sozialpoli­tik durch Tarifvertr­ag, den die Gewerkscha­ften der Rentenrefo­rm 2001 verdanken«, so Bispinck, der das Rentenalte­r erreicht hat und am Ende der Tagung mit vielen Weggefährt­en aus seinem jahrzehnte­langen Wirken beim WSI den Übergang in den Ruhestand feierte. Sein Nachfolger ist der 1966 geborene Thorsten Schulten. Der Diplom-Politologe ist seit 1997 beim WSI mit den Schwerpunk­ten internatio­nal vergleiche­nde Lohn- und Tarifpolit­ik, Arbeitsfor­schung und industriel­le Beziehunge­n tätig.

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Foto: Stefan Hesse Beschäftig­te demonstrie­ren im April 1997 gegen den Abbau tarifliche­r Rechte.

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