Das Ende kam zu spät
Für Hunderttausende von KZ-Häftlingen bedeuteten die letzten Monate bis zur Befreiung den Höhepunkt ihres Martyriums
Als ich von einem amerikanischen Offizier erfuhr, dass der Krieg vorbei war und die Deutschen besiegt waren, setzte ich mich hin und begann zu weinen. ›Warum freuen Sie sich nicht?‹ fragte er, ›der Krieg ist aus und Sie sind endlich frei‹. ›Warum sollte ich mich freuen?‹, antwortete ich ihm. ›Der Krieg ist aus, aber meine ganze Familie ist tot und die meisten meiner Freunde.‹« Das hat mir Alter Fajnsilber erzählt, ein jüdischer Kommunist, der gegen Hitlerdeutschland schon 1938 mit den Internationalen Brigaden in Spanien in den Krieg gezogen und später in Auschwitz gelandet war.
Das Ende kam zu spät. So viele Häftlinge in den Tausenden von Konzentrations- und Arbeitslagern, die die Deutschen geschaffen hatten, haben es nicht mehr erlebt. Und die es tatsächlich geschafft hatten und am 8. Mai begriffen: »Es ist vorbei, Nazideutschland ist besiegt, wir sind frei, ich bin frei!«, die waren zu müde und erschöpft, um sich noch zu freuen. Hatten doch die letzten Monate bis zum Kriegsende den Höhepunkt ihres Martyriums bedeutet.
Um es in den Worten Noach Flugs, des ehemaligen Präsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees auszudrücken: »Auschwitz war schrecklich, ein nicht enden wollender Albtraum, aber der Todesmarsch und Ebensee [das Lager, in dem er befreit wurde] waren die Hölle.« Diese Erkenntnis war lange ein Tabu. Nichts konnte doch so schlimm sein wie Auschwitz? Nicht einmal die ehemaligen Häftlinge wagten das zu äußern.
Die Todesmärsche und -züge sind deshalb der Forschung lange entgangen. Erst vor etwa fünfzehn Jahren hat die Wissenschaft begonnen, sich damit intensiver zu beschäftigen, und das, obwohl sie eines der grausamsten Kapitel in der Geschichte des Nationalsozialismus darstellen. Hatten noch Mitte Januar 1945 etwa 714 000 KZ-Häftlinge gelebt, so waren es vier Monate später noch höchstens 500 000. Mindestens ein Drittel hat in diesem kurzem Zeitraum noch den Tod gefunden: in den überfüllten Konzentrationslagern, auf den Todesmärschen und in den Todeszügen, die sie zu immer neuen Lagern bringen sollten, um zu verhindern, dass die Alliierten sie befreien konnten.
Das begann Mitte Januar 1945 mit der Evakuierung von Auschwitz, oft erst nur nach Groß-Rosen, einem Konzentrationslager in der Nähe von Breslau. Doch dann ging es immer weiter nach Westen. Viele Häftlinge haben mehrere dieser Todesmärsche mitmachen müssen. Das führte zur völligen Überfüllung einiger Lager wie etwa Bergen-Belsen, Ravensbrück oder Ebensee und zu fürchterlichen Lebensbedingungen für die Häftlinge dort. Am Ende konzentrierten sich die Transporte und Häftlingsmassen an der Ostsee, in Bayern und in Mauthausen und seinem Nebenlager Ebensee in Österreich.
Zuerst hatten diese Transporte vor allem ein Ziel: die Arbeitskraft der Häftlinge bis zuletzt rücksichtslos auszubeuten. Dies gilt für die ungarischen Juden, die als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, dies gilt für die unterirdischen Rüstungsanlagen, die bis zuletzt geplant wurden, etwa die gigantischen Stollen von Dora Mittelbau, in denen schon Produktion von Flugzeugteilen stattfand und die gleichzeitig immer weiter ausgebaut wurden. In Ebensee rückten die Häftlinge bis zuletzt aus, um mit Hacke und Schaufel Stollen für riesige Fabrikhallen zu graben. Die Waffenproduktion dort sollte die Niederlage Nazideutschlands im letzten Moment verhindern.
Aber es ging nicht nur um die Ausbeutung der Häftlinge, sondern sie sollten, so ein Himmler-Befehl vom 14. April 1945, keinesfalls »lebend in die Hände des Feindes fallen«. Ob die SS nur fürchtete, die Häftlinge könnten ihre Verbrechen bezeugen, ist nicht sicher. Viele von ihnen hielten ihr Handeln ja nicht einmal für ein Verbrechen, sondern glaubten, im Recht zu sein. Es war ihnen offensichtlich unvorstellbar, ihre Macht über diese Menschen aufzugeben. Nur so ist zu erklären, dass einige der Todesmärsche nicht auf Befehl, sondern aus Eigeninitiative von SS-Offizieren stattfanden. Etwa im Falle Max Schmidts, des Kommandanten des Auschwitz-Außenlagers Fürstengrube, der »seine« Häftlinge bis in sein Heimatdorf Bosau am Plöner See mitschleppte.
Sicher ist: in diesen allerletzten Kriegsmonaten kam das KZ vor der Haustür der Deutschen an. Unübersehbar waren die endlosen Kolonnen von Menschen, die sich durch die Dörfer quälten, unübersehbar ihr Leid, unübersehbar die Leichen, die ihren Weg säumten: erschossen, erfroren, aus Schwäche liegengeblieben.
Das KZ Wöbbelin in MecklenburgVorpommern hat nur zehn Wochen existiert. Seine einzige Funktion bestand darin, möglichst viele Häftlinge aus anderen Lagern aus dem Norden oder Osten aufzunehmen. Es bestand kein Zweck oder Ziel mehr, was die SS mit diesen Menschen anstellen wollte. Nicht einmal sie zu töten, war der Plan. Dass sie die Expertise zum Morden besaßen, hatten die Nazis hinlänglich bewiesen. Sie wollten die Häftlinge einfach nicht hergeben. Kein Mensch, der dort inhaftiert war, wird sich als ehemaliger Häftling von Wöbbelin vorstellen. Er wird sagen: »Ich war in Auschwitz, Neuengamme oder Majdanek gefangen.« Alle Menschen, die in Wöbbelin inhaftiert waren, hatten einen Irrweg über mehrere Lager und mehrere Todesmärsche oder -transporte hinter sich. Es waren Männer und Frauen. Und doch sagen sie einhellig: »Dieses Lager war das schlimmste von allen.«
In der deutschen Nachkriegsgeschichte wurde oft beklagt, dass die Alliierten den Krieg in den letzten Monaten zu erbarmungslos geführt hätten. Wozu noch die Städte bombardieren? Der Krieg war doch längst gewonnen! Dass jeder Tag zählte für all die Menschen, die die Nazis in Geiselhaft genommen hatten, das wurde ausgeblendet. Ebensee wurde als eines der letzten Lager kurz vor Kriegsende befreit: am 6. Mai 1945. Überall lagen die Leichen der Häftlinge, die nicht bis zum Schluss durchgehalten hatten.
Noach Flug hatte nicht nur Auschwitz überlebt. 33 Kilo wog er zu diesem Zeitpunkt. Er war dem Tod im wörtlichen Sinne von der Schippe gesprungen. Jeder Tag bis zur Befreiung zählte.
Mit den Todesmärschen kam das KZ vor der Haustür der Deutschen an. Unübersehbar waren die endlosen Kolonnen von Menschen.