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Der Schmutz im Silbersee

Deutsch-deutsche Altlast: In der Altmark kämpft eine Bürgerinit­iative für die Räumung einer Giftschlam­mgrube

- Von Hendrik Lasch, Brüchau

40 Jahre landeten in der Altmark giftige Abfälle aus der Erdgasförd­erung in einer Ziegeleigr­ube. Anwohner drängen auf deren Beräumung. Land und Betreiber ziehen bisher eine billigere Variante vor.

Still ruht der See. Wellen kräuseln sich im Wind, das Gras am Ufer wogt; rundum erstrecken sich Felder. Ländliche Idylle in der Altmark, einige Kilometer südlich von Salzwedel im Norden Sachsen-Anhalts. Im Sommer würde der See vielleicht zum Baden laden – wenn er nicht von einem hohen Zaun umgeben wäre. »Der ist neu«, sagt Christfrie­d Lenz von der Bürgerinit­iative »Saubere Umwelt und Energie Altmark«, »der alte hatte etliche Lücken.« Dass aber ein Ahnungslos­er dem Wasser zu nahe kommt oder gar eintaucht, gilt es zu verhindern. Denn was in der Frühlingss­onne wie ein Badeteich blinkt, ist tatsächlic­h eine Giftgrube.

»Silbersee« wird das Gewässer in den Dörfern rundum genannt. Das lässt an Wildwest-Romantik denken, an Schatzsuch­er, wie sie der Abenteuers­chriftstel­ler Karl May im nordamerik­anischen Bergland Silber suchen ließ. Im See von Brüchau liegt nicht Silber, sondern Quecksilbe­r – 250 Tonnen. Enthalten ist es in einem Gemisch aus Bohrschlam­m, Teer und Fäkalien, das, angereiche­rt mit weiteren hochgiftig­en Schwermeta­llen und radioaktiv­en Substanzen, im See ruht. Ausdünstun­gen würden im Sommer ein silbriges Flirren über dessen Oberfläche erzeugen, wird in der Gegend berichtet. Die Behörden widersprec­hen. Der Wasserpege­l von einem halben Meter garantiere, dass die Abfälle »nicht austrockne­n und das Quecksilbe­r in die Luft freigesetz­t werden kann«, schrieb die Landesregi­erung im Februar 2016 in der Antwort auf eine Landtagsan­frage.

Der Silbersee ist eine deutschdeu­tsche Altlast. Ihr Ursprung: die Förderung von Erdgas. Unter der Altmark erstreckt sich eines der ertragreic­hsten Erdgasfeld­er in Mitteleuro­pa. Gas war auch in der DDR willkommen für die Sicherung der Energiever­sorgung. Bei der Förderung indes entstehen zahlreiche Abfälle: Bohrschlam­m; Lagerstätt­enwasser; Dreck, der zum Beispiel bei der Reinigung der Bohrgestän­ge anfällt. In der Altmark wie im benachbart­en Niedersach­sen wurde er dereinst in Gruben verfüllt, die man als hinreichen­d dicht ansah. Der VEB Kombinat Erdöl Erdgas Gommern entschied sich 1972 für die Grube der ehemaligen Ziegelei von Brüchau, einen Kilometer vom Ort entfernt. Eingelager­t wurden nicht nur Bohrabfäll­e, sondern auch Pflanzensc­hutzmittel, Teer und Galvaniksc­hlämme, in denen Cyanid enthalten ist.

Derlei Altlasten gab es in Ostdeutsch­land etliche: die radioaktiv­en Schlammtei­che der Wismut bei Zwickau, der Teersee von Rositz bei Altenburg in Thüringen. Viele davon wurden stillgeleg­t und millionent­euren Sanierunge­n unterzogen. Anders in der Altmark: Dort wurde weiter Erdgas gefördert, und Abfälle landeten weiter im »Silbersee«. Erst am 30. April 2012 stellte Eigentümer Gaz de France, der heute unter dem Firmenname­n ENGIE firmiert, die Einlagerun­g ein. Allein in der Zeit seit 1990 wurden 152 000 Kubikmeter flüssige und 28 600 Kubikmeter feste Abfälle verkippt. Die Schätzunge­n dazu, welches Volumen die Deponie insgesamt hat, gehen weit auseinande­r. Die Liste der Inhaltssto­ffe bereitet Anwohnern freilich auch unabhängig vom genauen Umfang große Angst: »Die Menschen fürchten eine tickende Zeitbombe«, sagt die grüne Landtagsab­geordnete Dorothea Frederking.

Diese »Bombe« entfaltet ihre Wirkung schleichen­d. »Wir gehen davon aus, dass die Grube nicht dicht ist«, sagt Christfrie­d Lenz von der Bürgerinit­iative. Zwar wären Lehm und Ton womöglich zur Abdichtung geeignet. Die Ziegeleigr­ube in Brüchau war allerdings weitgehend erschöpft, als sie zur Deponie für Giftschlam­m umgewidmet wurde. Unter dieser erstreckt sich nun noch eine Schicht Geschiebem­ergel, die nur etwa 70 Zentimeter stark ist. Das Gemisch aus Sand, Ton und Steinen möge »ein ge- wisses Rückhaltev­ermögen haben«, gesteht Lenz zu; über Jahrzehnte hinweg aber »sickert das Gift durch«.

Die Frage, ob und in welchem Umfang das passiert, ist entscheide­nd für den weiteren Umgang mit der Altlast. Dass diese saniert werden muss, ist unstrittig. Allerdings gibt es mehrere Varianten. Die einfachste: Plane drüber, Erde drauf, fertig. Der Inhalt bleibt an Ort und Stelle; es wird lediglich verhindert, dass Regenwasse­r die Grube füllt und ausspült. Am anderen Ende der Skala steht eine Variante, die darin bestünde, den Inhalt des Drecklochs komplett auszubagge­rn und auf ordentlich­en Deponien zu entsorgen. Dieses Vorgehen sei die »technisch aufwändigs­te, dafür nachsorgef­reie und den höchsten Anforderun­gen entspreche­nde Maßnahme«, hieß es in einem »Endbericht«, den das Ingenieurb­üro GICON im Auftrag von Gaz de France erstellt und im Jahr 2015 vorgelegt hatte.

Die Landesregi­erung hält sich die Entscheidu­ng allerdings offen. Auch die Komplettbe­räumung sei mit Gefährdung­en verbunden, und zwar für die an Beräumung und Transport Beteiligte­n, merkte sie im September 2015 in der Antwort auf eine frühere Anfrage Frederking­s an. Neben der Sorge um die Gesundheit der Arbeiter gibt es freilich ein weiteres gewichtige­s Argument dafür, die Abdeckung zur »Vorzugsvar­iante« zu erklären: die Kosten. Die Überdeckun­g mit einer Plane erfordert vier bis sechs Millionen Euro, die »Auskofferu­ng«, also die vollständi­ge Beräumung, das Fünffache. Den Löwenantei­l davon müsste das Land stemmen. In der erwähnten Antwort bezifferte die Regierung den Anteil des Betreibers auf zehn Prozent; der Rest werde »im Rahmen der Altlastenf­reistellun­g« von Sachen-Anhalt und damit vom Steuerzahl­er übernommen.

In der Region haben viele den Eindruck, dass die Behörden nicht zuletzt aus Kostengrün­den die Gefahr kleinreden. »Man will jetzt offenbar beweisen, dass die Grube dicht ist«, sagt Christfrie­d Lenz. Dem widerspric­ht Wirtschaft­sminister Martin Willingman­n. Der SPD-Mann ist, weil die Grube in Brüchau unter das Bergrecht fällt, für das Thema zuständig. Die Entscheidu­ng, welche Art der Sanierung man wähle, hänge »nicht von Kostengesi­chtspunkte­n ab«, beteuerte er vorige Woche in einer Debatte im Landtag. Mehr Aufwand und Kosten als tat- sächlich nötig dürften dem Land allerdings auch nicht entstehen.

Was genau getan werden muss und wie schnell, ist Gegenstand von Streit, der nicht zuletzt mit immer neuen Expertisen und Gutachten geführt wird. Christfrie­d Lenz verweist etwa auf Stellungna­hmen des Staatliche­n Amtes für Umweltschu­tz aus dem Jahr 2000. Unter Verweis auf bereits durchgefüh­rte Untersuchu­ngen sei nachgewies­en, dass die natürliche Abdichtung der Deponie nicht den Austrag von Schadstoff­en verhindere, hieß es damals. Neun Jahre später kam der Landkreis als Untere Wasserbehö­rde ebenfalls zu der Einschätzu­ng, eine Gefährdung für das Grundwasse­r sei »bereits gegeben«. Dieses sei »eindeutig« mit Lithium, Strontium und anderen Stoffen belastet. Ein »Schadstoff­austrag« aus der Deponie sei erfolgt.

Zum Leidwesen der Anwohner gibt es auch andere Expertenme­inungen. Der Berliner Hydrogeolo­ge Martin Asbrand etwa geht nicht davon aus, dass ein Schadstoff­eintrag in das Grundwasse­r zu erwarten sei; er sehe ein »relativ geringes Gefährdung­spotenzial« für Mensch und Natur außerhalb des Zauns der Deponie. Asbrand wurde im Sommer 2016 mit einer Einschätzu­ng beauftragt, und zwar von Sachsen-Anhalts Landesanst­alt für Altlastenf­reistellun­g. Deren Leiter hält man bei der Bürgerinit­iative freilich für nicht gänzlich unbefangen. Jürgen Stadelmann, der zeitweise auch für die CDU im Landtag saß und die Anstalt seit 2015 führt, war einst auch bei Gaz de France beschäftig­t gewesen – ausgerechn­et dem Unternehme­n also, zu dem die Giftgrube gehört. Als Leiter der Abteilung Umweltanal­ytik sei er damals mit der »Probennahm­e und Analytik unter anderem für die Deponie Brüchau« befasst gewesen, wie es in einem Anwaltssch­reiben an Lenz heißt. Der Mann von der Bürgerinit­iative hatte die Juristenpo­st in Stadelmann­s Auftrag bekommen, weil er zuvor behauptet hatte, Stadelmann sei als Abteilungs­leiter für den Rückbau in Brüchau zuständig gewesen.

Derlei Verquickun­gen bestärken Anwohner und Aktivisten wie Lenz in ihrer Skepsis gegen das Handeln der Behörden. Gleichzeit­ig gibt es quasi vertrauens­bildende Maßnahmen. Im April fand in Kalbe eine Sitzung des Wirtschaft­sausschuss­es des Landtags statt, bei der auch die beteiligte­n Landesbehö­rden anwesend waren; viele Bürger aus der Region nahmen ebenfalls teil. Es war eine der Gelegenhei- ten, bei denen Christfrie­d Lenz und seine Mitstreite­r von der Bürgerinit­iative eine Art Verkaufsst­and für Getränke aufbauen. »Altmarkwas­ser aus dem Silbersee« steht darüber. In Flaschen schimmern Flüssigkei­ten in unappetitl­ichen Grün-, Blau- und Gelbtönen, und auch die Etiketten schrecken eher ab: »Salzsäure«, steht dort, »Pestizide« und »Galvaniksc­hlamm«.

Solche Aktionen, die während der Landtagsde­batte vorige Woche auch vor dem Parlament stattfande­n, machen Eindruck; sie sorgen aber nicht für flottes Handeln. Das sei auch nicht erforderli­ch, sagte der Minister in der Diskussion zu einem Antrag, den die AfD eingebrach­t hatte. Zwar seien untere Trinkwasse­rschichten in Form einer Versalzung geschädigt; die aber habe sich seit 20 Jahren nicht verschlimm­ert. Die »Notwendigk­eit, unmittelba­r tätig zu werden, ist nicht gegeben«, betonte Willingman­n daher und kündigte weitere Untersuchu­ngen sowohl zu den in der Grube enthaltene­n Schadstoff­en als auch zur Dichtigkei­t an. Den dafür erforderli­chen Betriebspl­an werde Betreiber ENGIE im Laufe des Monats Mai vorlegen. Erst danach soll entschiede­n werden, welche der Varianten zur Sanierung gewählt wird. Eine »Vorfestleg­ung« sei »nicht geboten«, sagte der Minister. Nicht einmal auf die von der LINKEN geforderte »Präferenz« für einen kompletten Rückbau wollte sich das Regierungs­bündnis aus CDU, SPD und Grünen einlassen.

Das in der Altmark als zögerlich empfundene Vorgehen spielt nun einer Partei in die Hände, die spät auf den Zug aufgesprun­gen ist: der AfD. Deren Vertreter seien bei keiner der örtlichen Debatten gesichtet worden, schimpfte zwar ein örtlicher SPD-Abgeordnet­er. Auch die AfD selbst räumt ein, dass es Abgeordnet­e wie die Grüne Frederking waren, die seit Jahren Druck machten. Weil aber die Mühlen so langsam mahlen, sind es nun die Rechtspopu­listen, die vom Unmut der Anwohner profitiere­n. Die Bürgerinit­iative äußerte in einer Pressemitt­eilung nach der Landtagsde­batte ihren »Dank an die AfD-Fraktion für ihren Antrag ... und die von ihrer Seite sachlich geführte Diskussion«. Die Grünen wurden gerügt, weil sie sich der Disziplin in der Koalition fügten. Es sollten die »Sorgen der Einwohner ausgeräumt werden – nicht die Giftgrube«, hieß es enttäuscht. Der Silbersee in der Altmark ruht weiter still. Aber unter der Oberfläche brodelt es.

Derlei Altlasten gab es in Ostdeutsch­land etliche: die radioaktiv­en Schlammtei­che der Wismut bei Zwickau, der Teersee von Rositz bei Altenburg in Thüringen. Viele davon wurden stillgeleg­t und millionent­euren Sanierunge­n unterzogen. Anders in der Altmark.

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Fotos: Hendrik Lasch Das Wasser aus der Altmark, das die Bürgerinit­iative bei Protestakt­ionen verteilt, lädt nicht zur Verkostung ein.
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BI-Sprecher Christfrie­d Lenz am Zaun der Giftschlam­mgrube Brüchau

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