Der Schmutz im Silbersee
Deutsch-deutsche Altlast: In der Altmark kämpft eine Bürgerinitiative für die Räumung einer Giftschlammgrube
40 Jahre landeten in der Altmark giftige Abfälle aus der Erdgasförderung in einer Ziegeleigrube. Anwohner drängen auf deren Beräumung. Land und Betreiber ziehen bisher eine billigere Variante vor.
Still ruht der See. Wellen kräuseln sich im Wind, das Gras am Ufer wogt; rundum erstrecken sich Felder. Ländliche Idylle in der Altmark, einige Kilometer südlich von Salzwedel im Norden Sachsen-Anhalts. Im Sommer würde der See vielleicht zum Baden laden – wenn er nicht von einem hohen Zaun umgeben wäre. »Der ist neu«, sagt Christfried Lenz von der Bürgerinitiative »Saubere Umwelt und Energie Altmark«, »der alte hatte etliche Lücken.« Dass aber ein Ahnungsloser dem Wasser zu nahe kommt oder gar eintaucht, gilt es zu verhindern. Denn was in der Frühlingssonne wie ein Badeteich blinkt, ist tatsächlich eine Giftgrube.
»Silbersee« wird das Gewässer in den Dörfern rundum genannt. Das lässt an Wildwest-Romantik denken, an Schatzsucher, wie sie der Abenteuerschriftsteller Karl May im nordamerikanischen Bergland Silber suchen ließ. Im See von Brüchau liegt nicht Silber, sondern Quecksilber – 250 Tonnen. Enthalten ist es in einem Gemisch aus Bohrschlamm, Teer und Fäkalien, das, angereichert mit weiteren hochgiftigen Schwermetallen und radioaktiven Substanzen, im See ruht. Ausdünstungen würden im Sommer ein silbriges Flirren über dessen Oberfläche erzeugen, wird in der Gegend berichtet. Die Behörden widersprechen. Der Wasserpegel von einem halben Meter garantiere, dass die Abfälle »nicht austrocknen und das Quecksilber in die Luft freigesetzt werden kann«, schrieb die Landesregierung im Februar 2016 in der Antwort auf eine Landtagsanfrage.
Der Silbersee ist eine deutschdeutsche Altlast. Ihr Ursprung: die Förderung von Erdgas. Unter der Altmark erstreckt sich eines der ertragreichsten Erdgasfelder in Mitteleuropa. Gas war auch in der DDR willkommen für die Sicherung der Energieversorgung. Bei der Förderung indes entstehen zahlreiche Abfälle: Bohrschlamm; Lagerstättenwasser; Dreck, der zum Beispiel bei der Reinigung der Bohrgestänge anfällt. In der Altmark wie im benachbarten Niedersachsen wurde er dereinst in Gruben verfüllt, die man als hinreichend dicht ansah. Der VEB Kombinat Erdöl Erdgas Gommern entschied sich 1972 für die Grube der ehemaligen Ziegelei von Brüchau, einen Kilometer vom Ort entfernt. Eingelagert wurden nicht nur Bohrabfälle, sondern auch Pflanzenschutzmittel, Teer und Galvanikschlämme, in denen Cyanid enthalten ist.
Derlei Altlasten gab es in Ostdeutschland etliche: die radioaktiven Schlammteiche der Wismut bei Zwickau, der Teersee von Rositz bei Altenburg in Thüringen. Viele davon wurden stillgelegt und millionenteuren Sanierungen unterzogen. Anders in der Altmark: Dort wurde weiter Erdgas gefördert, und Abfälle landeten weiter im »Silbersee«. Erst am 30. April 2012 stellte Eigentümer Gaz de France, der heute unter dem Firmennamen ENGIE firmiert, die Einlagerung ein. Allein in der Zeit seit 1990 wurden 152 000 Kubikmeter flüssige und 28 600 Kubikmeter feste Abfälle verkippt. Die Schätzungen dazu, welches Volumen die Deponie insgesamt hat, gehen weit auseinander. Die Liste der Inhaltsstoffe bereitet Anwohnern freilich auch unabhängig vom genauen Umfang große Angst: »Die Menschen fürchten eine tickende Zeitbombe«, sagt die grüne Landtagsabgeordnete Dorothea Frederking.
Diese »Bombe« entfaltet ihre Wirkung schleichend. »Wir gehen davon aus, dass die Grube nicht dicht ist«, sagt Christfried Lenz von der Bürgerinitiative. Zwar wären Lehm und Ton womöglich zur Abdichtung geeignet. Die Ziegeleigrube in Brüchau war allerdings weitgehend erschöpft, als sie zur Deponie für Giftschlamm umgewidmet wurde. Unter dieser erstreckt sich nun noch eine Schicht Geschiebemergel, die nur etwa 70 Zentimeter stark ist. Das Gemisch aus Sand, Ton und Steinen möge »ein ge- wisses Rückhaltevermögen haben«, gesteht Lenz zu; über Jahrzehnte hinweg aber »sickert das Gift durch«.
Die Frage, ob und in welchem Umfang das passiert, ist entscheidend für den weiteren Umgang mit der Altlast. Dass diese saniert werden muss, ist unstrittig. Allerdings gibt es mehrere Varianten. Die einfachste: Plane drüber, Erde drauf, fertig. Der Inhalt bleibt an Ort und Stelle; es wird lediglich verhindert, dass Regenwasser die Grube füllt und ausspült. Am anderen Ende der Skala steht eine Variante, die darin bestünde, den Inhalt des Drecklochs komplett auszubaggern und auf ordentlichen Deponien zu entsorgen. Dieses Vorgehen sei die »technisch aufwändigste, dafür nachsorgefreie und den höchsten Anforderungen entsprechende Maßnahme«, hieß es in einem »Endbericht«, den das Ingenieurbüro GICON im Auftrag von Gaz de France erstellt und im Jahr 2015 vorgelegt hatte.
Die Landesregierung hält sich die Entscheidung allerdings offen. Auch die Komplettberäumung sei mit Gefährdungen verbunden, und zwar für die an Beräumung und Transport Beteiligten, merkte sie im September 2015 in der Antwort auf eine frühere Anfrage Frederkings an. Neben der Sorge um die Gesundheit der Arbeiter gibt es freilich ein weiteres gewichtiges Argument dafür, die Abdeckung zur »Vorzugsvariante« zu erklären: die Kosten. Die Überdeckung mit einer Plane erfordert vier bis sechs Millionen Euro, die »Auskofferung«, also die vollständige Beräumung, das Fünffache. Den Löwenanteil davon müsste das Land stemmen. In der erwähnten Antwort bezifferte die Regierung den Anteil des Betreibers auf zehn Prozent; der Rest werde »im Rahmen der Altlastenfreistellung« von Sachen-Anhalt und damit vom Steuerzahler übernommen.
In der Region haben viele den Eindruck, dass die Behörden nicht zuletzt aus Kostengründen die Gefahr kleinreden. »Man will jetzt offenbar beweisen, dass die Grube dicht ist«, sagt Christfried Lenz. Dem widerspricht Wirtschaftsminister Martin Willingmann. Der SPD-Mann ist, weil die Grube in Brüchau unter das Bergrecht fällt, für das Thema zuständig. Die Entscheidung, welche Art der Sanierung man wähle, hänge »nicht von Kostengesichtspunkten ab«, beteuerte er vorige Woche in einer Debatte im Landtag. Mehr Aufwand und Kosten als tat- sächlich nötig dürften dem Land allerdings auch nicht entstehen.
Was genau getan werden muss und wie schnell, ist Gegenstand von Streit, der nicht zuletzt mit immer neuen Expertisen und Gutachten geführt wird. Christfried Lenz verweist etwa auf Stellungnahmen des Staatlichen Amtes für Umweltschutz aus dem Jahr 2000. Unter Verweis auf bereits durchgeführte Untersuchungen sei nachgewiesen, dass die natürliche Abdichtung der Deponie nicht den Austrag von Schadstoffen verhindere, hieß es damals. Neun Jahre später kam der Landkreis als Untere Wasserbehörde ebenfalls zu der Einschätzung, eine Gefährdung für das Grundwasser sei »bereits gegeben«. Dieses sei »eindeutig« mit Lithium, Strontium und anderen Stoffen belastet. Ein »Schadstoffaustrag« aus der Deponie sei erfolgt.
Zum Leidwesen der Anwohner gibt es auch andere Expertenmeinungen. Der Berliner Hydrogeologe Martin Asbrand etwa geht nicht davon aus, dass ein Schadstoffeintrag in das Grundwasser zu erwarten sei; er sehe ein »relativ geringes Gefährdungspotenzial« für Mensch und Natur außerhalb des Zauns der Deponie. Asbrand wurde im Sommer 2016 mit einer Einschätzung beauftragt, und zwar von Sachsen-Anhalts Landesanstalt für Altlastenfreistellung. Deren Leiter hält man bei der Bürgerinitiative freilich für nicht gänzlich unbefangen. Jürgen Stadelmann, der zeitweise auch für die CDU im Landtag saß und die Anstalt seit 2015 führt, war einst auch bei Gaz de France beschäftigt gewesen – ausgerechnet dem Unternehmen also, zu dem die Giftgrube gehört. Als Leiter der Abteilung Umweltanalytik sei er damals mit der »Probennahme und Analytik unter anderem für die Deponie Brüchau« befasst gewesen, wie es in einem Anwaltsschreiben an Lenz heißt. Der Mann von der Bürgerinitiative hatte die Juristenpost in Stadelmanns Auftrag bekommen, weil er zuvor behauptet hatte, Stadelmann sei als Abteilungsleiter für den Rückbau in Brüchau zuständig gewesen.
Derlei Verquickungen bestärken Anwohner und Aktivisten wie Lenz in ihrer Skepsis gegen das Handeln der Behörden. Gleichzeitig gibt es quasi vertrauensbildende Maßnahmen. Im April fand in Kalbe eine Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Landtags statt, bei der auch die beteiligten Landesbehörden anwesend waren; viele Bürger aus der Region nahmen ebenfalls teil. Es war eine der Gelegenhei- ten, bei denen Christfried Lenz und seine Mitstreiter von der Bürgerinitiative eine Art Verkaufsstand für Getränke aufbauen. »Altmarkwasser aus dem Silbersee« steht darüber. In Flaschen schimmern Flüssigkeiten in unappetitlichen Grün-, Blau- und Gelbtönen, und auch die Etiketten schrecken eher ab: »Salzsäure«, steht dort, »Pestizide« und »Galvanikschlamm«.
Solche Aktionen, die während der Landtagsdebatte vorige Woche auch vor dem Parlament stattfanden, machen Eindruck; sie sorgen aber nicht für flottes Handeln. Das sei auch nicht erforderlich, sagte der Minister in der Diskussion zu einem Antrag, den die AfD eingebracht hatte. Zwar seien untere Trinkwasserschichten in Form einer Versalzung geschädigt; die aber habe sich seit 20 Jahren nicht verschlimmert. Die »Notwendigkeit, unmittelbar tätig zu werden, ist nicht gegeben«, betonte Willingmann daher und kündigte weitere Untersuchungen sowohl zu den in der Grube enthaltenen Schadstoffen als auch zur Dichtigkeit an. Den dafür erforderlichen Betriebsplan werde Betreiber ENGIE im Laufe des Monats Mai vorlegen. Erst danach soll entschieden werden, welche der Varianten zur Sanierung gewählt wird. Eine »Vorfestlegung« sei »nicht geboten«, sagte der Minister. Nicht einmal auf die von der LINKEN geforderte »Präferenz« für einen kompletten Rückbau wollte sich das Regierungsbündnis aus CDU, SPD und Grünen einlassen.
Das in der Altmark als zögerlich empfundene Vorgehen spielt nun einer Partei in die Hände, die spät auf den Zug aufgesprungen ist: der AfD. Deren Vertreter seien bei keiner der örtlichen Debatten gesichtet worden, schimpfte zwar ein örtlicher SPD-Abgeordneter. Auch die AfD selbst räumt ein, dass es Abgeordnete wie die Grüne Frederking waren, die seit Jahren Druck machten. Weil aber die Mühlen so langsam mahlen, sind es nun die Rechtspopulisten, die vom Unmut der Anwohner profitieren. Die Bürgerinitiative äußerte in einer Pressemitteilung nach der Landtagsdebatte ihren »Dank an die AfD-Fraktion für ihren Antrag ... und die von ihrer Seite sachlich geführte Diskussion«. Die Grünen wurden gerügt, weil sie sich der Disziplin in der Koalition fügten. Es sollten die »Sorgen der Einwohner ausgeräumt werden – nicht die Giftgrube«, hieß es enttäuscht. Der Silbersee in der Altmark ruht weiter still. Aber unter der Oberfläche brodelt es.
Derlei Altlasten gab es in Ostdeutschland etliche: die radioaktiven Schlammteiche der Wismut bei Zwickau, der Teersee von Rositz bei Altenburg in Thüringen. Viele davon wurden stillgelegt und millionenteuren Sanierungen unterzogen. Anders in der Altmark.