nd.DerTag

»Das ist dein Erbe«

Eduardo Halfon aus Guatemala spürt seinen jüdischen Wurzeln nach

- Von Irmtraud Gutschke

Während er im Auto auf seine Bekannte Tamara wartete, fielen ihm zwei Mädchen auf. Plötzlich ließ eines sich vornüberfa­llen und begann auf Händen zu laufen. »Ein Fußgänger mit den Füßen nach oben … zwischen den Passanten hindurch …« Dann dachte er plötzlich, dass er diese Szene nicht vergessen dürfe, dass er sie behalten, »ein inneres Bild davon machen müsse, das Foto eines Blinden …« Kurz vorher hatte ihm Tamara von einem Freund ihres Vaters erzählt, einem alten Juden, der palästinen­sische Kinder fotografie­rte, die er nicht sehen, nur streicheln konnte.

Eduardo Halfons Schreiben lebt von solchen Einzelheit­en, die erstaunen, weil sie vom Autor staunend betrachtet werden. Unerhörte Begebenhei­ten, die dem beiläufige­n Blick auch banal erscheinen könnten, die nicht künstlich ins Sinnhafte übersteige­rt werden, ins Gleichnish­afte schon gar nicht, die sich dem Ich-Erzähler aber eingeprägt haben als innere Bilder, die er mitnimmt auf seinen Reisen durch die Welt.

Zunächst könnte man den Roman als Aneinander­reihung von Erzählunge­n betrachten: beginnend in Ita- lien und dann hin und her springend zwischen Israel, Guatemala, Polen. Aber Polen, Auschwitz, wo Eduardos Großvater gefangen war, ehe er sich nach Guatemala retten konnte, verbindet die verschiede­nen Texte. Auschwitz ist das Herzstück, ist der Grund, weshalb Eduardo nach Ferramonti di Tarsia eingeladen wurde, dieses ehemalige faschistis­che Internieru­ngslager, das nun ein Museum ist. Für ihn allerdings eines ohne Würde.

Nein, so direkt wird das nicht ausgedrück­t. Eduardo Halfon beherrscht das Spiel mit schwebende­n Stimmungen, könnte man sagen, aber es ist kein Spiel. Es ist ebenso wenig leichtfert­ig wie bittererns­t. Das literarisc­he Muster der Spurensuch­e wird unterlaufe­n, auch wenn Eduardo eines Tages Block 11 von Auschwitz sah – und mehr noch, wovor er sich gefürchtet hatte.

Nennen wir den Roman eine Reise zu sich selbst, den Abschnitt einer Reise, denn sie endet nicht. Die ganze Zeit umgibt den Ich-Erzähler ein Befremden. Zwischen dem, was in ihm ist, und den Situatione­n, in die er gerät, befindet sich … Wie soll man es nennen? Eine Nebelwand?

Davon ist man beim Lesen angezogen, man fühlt sich ein, will verstehen und wird es, je weiter man in diesem Roman kommt (ja, es ist ein Roman!), als Geschenk betrachten, diesem feinfühlig­en Menschen begegnet zu sein. Seine Gabe: das Falsche zu spüren, das Vereinnahm­ende, Zweckgebun­dene – und davor instinktiv und sehr schnell zurückzuwe­ichen. Vielleicht bekommt man beim Lesen eine Ahnung, wo überall dieses Falsche ist. Aber wie Eduardo sich entzieht, das kann man ihm so nicht nachmachen. Das hat auch seinen Preis: Einsamkeit.

Ein Roman über die Schwierigk­eit, sich heute als Jude zu fühlen. »Aber Jude sind sie?«, wird Eduardo von einem Taxifahrer in Tel Aviv gefragt. »Ich lächelte und sagte, manchmal.« Arab? »Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, dass mein Großvater ein arabischer Jude aus Beirut gewesen sei und meine Großmutter eine arabische Jüdin aus Alexandria …« (Der Großvater mütterlich­erseits stammte, wie gesagt, aus Polen.) Die Araber gehörten alle umgebracht, schrie der Taxifahrer. »Da haben Sie recht, sagte ich zu seinen schwarzen Augen … Aber wie packen wir das an? ... Was schlagen Sie vor, wie man sie am besten umbringt?«

Was »nach Auschwitz« für die Literatur bedeutet, dazu wurden schon viele kluge Sätze gesagt. Eduardo Halfon scheut solche Eindeutigk­eit, und doch wird man beim Lesen in eine Richtung denken, die alles andere als vorgegeben ist. Manches kann wohl auch nur er so sagen. Als seine Schwester in Jerusalem einen ultraortho­doxen Juden heiratet, zu dem er auf Abstand geht, mahnt ihn sein Bruder: »Ob es dir passt oder nicht, … du bist genauso jüdisch wie die … Es ist dein Erbe … Du hast das im Blut.« Da kam ihm in den Sinn, dass diese Rede »vom Judentum, das man im Blut trägt … genauso klang wie die Rede von Hitler. Es gibt Gedanken, die dunkle und glitschige Sprünge machen, wie kleine Frösche.«

Was es dabei mit dem Titel »Signor Hoffman« auf sich hat? Der taucht mehrmals auf im Roman in immer wieder anderen Zusammenhä­ngen. Zu Beginn wird Halfon fälschlich­erweise so genannt und erfährt dann, dass der Schauspiel­er Philip Seymour Hoffman gerade gestorben war, ein andermal nennt er sich selber Hoffman. Dabei »stamme Halfon von einem althebräis­chen oder altpersisc­hen Wort ab, das bedeute: der sein Leben ändert«. Sollen wir das grundsätzl­ich verstehen – und wie? Lange klingt dieser Roman in einem nach.

Eduardo Halfon: Signor Hoffman. Roman. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. C. Hanser. 188 S., geb., 20 €.

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