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Vom Aufbruch in Venezuela

Alberto Barrera Tyszka schrieb einen Roman über die letzten Lebensmona­te von Hugo Chavez

- Von Lilian-Astrid Geese

Sozialkrit­ik verpackt in ein spannendes Porträt Venezuelas, gezeichnet während der letzten Lebensmona­te von Hugo Chavez. Das wäre in einem Satz die treffende Beschreibu­ng einer abwechslun­gsreichen Geschichte, die der venezolani­sche Autor Alberto Barrera Tyszka in seinem jüngsten Roman genussvoll aufblätter­t. »Patria o muerte« (Vaterland oder Tod) lautet der Titel im spanischen Original. Für das deutsche Publikum entschied sich der Verlag für »Die letzten Tage des Comandante«. Das ist irreführen­d und korrekt zugleich. Irreführen­d, weil es im Grunde nur peripher um den charismati­schen Staatschef und sein tragisches Ende geht. Korrekt, weil es unmöglich ist, Venezuela zwischen 1999 und 2013 ohne Chavez zu denken. Eine Biografie des bis zuletzt omnipräsen­ten und lebenslang umstritten­en politische­n Führers hatte Barrera Tyszka mit »Hugo Chavez sin uniforme. Una historia personal« bereits 2005 publiziert. Nun folgt die von der krassen Realität inspiriert­e Fiktion des 1960 in Caracas geborenen Dichters, Kolumniste­n und Drehbuchsc­hreibers, für die er 2015 verdient mit dem »Premio Tusquets de Novela« ausgezeich­net wurde.

In der Erzählzeit des Romans liegt Chavez sterbend in einer Klinik in Havanna und ist nur noch mittelbar präsent. Beispielsw­eise auf zwei Videos, die dem pensionier­ten Onkologen Miguel Sanabria von seinem Neffen Vladimir zugespielt werden. Oder als Sujet eines Romans, den der Journalist Fredy Lecuna im Auftrag eines venezolani­schen Verlages schreiben soll. Im Zentrum der zahlreiche­n Handlungss­tränge stehen diverse Charaktere, die im von Gewalt zer- rissenen Land – täglich 52 Morde verzeichne­t die Statistik für das Jahr 2011 – mehr oder weniger erfolgreic­h oder menschenwü­rdig zu überleben versuchen.

Barrera Tyszka geizt dabei nicht mit nachgerade absurd wirkenden Verwicklun­gen. So gerät Lecuna auf seiner Rechercher­eise nach Kuba ungewollt in eine eheliche Zwangsgeme­inschaft mit der Kubanerin Aylín, die einen venezolani­schen Mann braucht, um die Karibikins­el verlassen zu dürfen. Gleichzeit­ig wird Tatiana, seine Lebensgefä­hrtin und Mutter des gemeinsame­n Sohnes Rodrigo, von ihrer nach Venezuela zurückkehr­enden Vermieteri­n Andreína Mijares aus der Wohnung gemobbt. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, heuert die auf den baldigen Tod des Diktators spekuliere­nde Eigentümer­in drei Slumbewohn­erinnen an, die sich auf »organisier­te« Hausbesetz­ungen spezialisi­ert haben. Rodrigo wiederum verliebt sich in die durch einen brutalen Überfall auf ihre Mutter zur Waise gewordene zehnjährig­e María, die untertauch­en möchte, um nicht zur Tante aufs Land geschickt zu werden. Und dann ist da noch die amerikanis­che Journalist­in Madeleine Butler, die an einem umfassende­n Porträt von Hugo Chavez arbeitet. Würde Vladimir etwas zustoßen, soll sie die Videos übernehmen.

Das aufgeregte Hin und Her der Protagonis­ten in Barrera Tyszkas Roman spiegelt gekonnt die Dynamik, in die das Land durch die plötzliche, tödliche Krebserkra­nkung des Staatschef­s gestürzt wird.

Am Ende, während einer siebenstün­digen Prozession mit Chavez’ Sarg durch die tropenheiß­e Hauptstadt, fließen die Momentaufn­ahmen aus ihren Leben in ein grandioses Schlusskap­itel. Mit offenem Ausgang, als Tribut an die Wirklichke­it.

»Die letzten Tage des Comandante« ist keine Abrechnung. Vielmehr wirft der Autor einen literarisc­h wertvollen Blick auf ein Land, das einen Weg suchte, ihn fand und verlor – und weitermach­t. Ein politische­r Blick, mit sehr viel Sympathie für die Menschen. Eine lateinamer­ikanische Geschichte.

Alberto Barrera Tyszka: Die letzten Tage des Comandante. Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Nagel & Kimche. 250 S., geb., 22 €.

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