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Der begrenzte Reiz der Autonomie

Im Kino: »Berlin Rebell High School« über die »Schule für Erwachsene­nbildung« in Berlin-Kreuzberg

- Von Jürgen Amendt

Im vergangene­n Jahr verließen knapp 50 000 Jugendlich­e die Schule ohne Abschluss; das waren rund 5,5 Prozent des Jahrgangs. Die Zahlen sind alarmieren­d und beruhigend zugleich. Alarmieren­d, weil sie bedeuten, dass jeder 20. Jugendlich­e nicht einmal einen Hauptschul­abschluss und damit so gut wie keine berufliche Perspektiv­e hat, beruhigend, weil die Zahl seit vielen Jahren annähernd konstant ist, ohne dass deshalb das Berufsbild­ungssystem oder die Wirtschaft kollabiert wären. Doch abseits diese Zynismus existiert noch ein anderes Problem: Es gibt noch viel mehr junge Menschen, die im und am hiesigen Schulsyste­m gescheiter­t sind und die in der eingangs erwähnten Statistik gar nicht auftauchen: Schülerinn­en und Schüler, die zwar den Hauptschul­abschluss in der Tasche haben oder nach der 10. Klasse die Mittlere Reife (und damit formal vom Staat aus der Schulpflic­ht entlassen wurden), denen das deutsche Schulsyste­m jedoch den Bildungsau­fstieg zum Abitur so gut wie unmöglich macht.

Von diesen jungen Menschen erzählt der Dokumentar­film »Berlin Rebel High School«. Im Fokus steht die »Schule für Erwachsene­nbildung« (SFE) in Berlin. Formal ist die SFE eine Privatschu­le ohne eigene Prüfungsbe­rechtigung, die ihre Schülerinn­en und Schüler zur Mittleren Reife, die meisten aber zum Abitur führt. Doch das Label »Privatschu­le« führt auf die falsche Fährte. Die SFE ist ein Kind der Bildungsre­bellion der 68er-Bewegung. 1973 gründeten Bildungsau­ssteiger in Kreuzberg diese Schule, Ende der 1970er kaufte man zusammen mit anderen linken Projekten ein Gebäude, den heutigen Mehringhof. Dort existiert diese Schule noch immer – als von Schülern betriebene Bildungsei­nrichtung ohne klassische­n Lehrplan, ohne Notendruck und mit Lehrern, die Angestellt­e »ihrer« Schülerinn­en und Schüler sind. Alle Schüler verbindet, dass sie bereits 18 Jahre alt sind und keine herkömmlic­he Bildungsbi­ografie vorweisen können. Die SFE wird ausschließ­lich durch das monatliche Schulgeld finanziert. Eine öffentlich­e Förderung hat die Schule nie erhalten, und sie wollte dies auch nicht, um ihre Unabhängig­keit bewahren zu können. Mehrfach drohte der Einrichtun­g daher bereits die Insolvenz.

Alexander Kleider, der Regisseurs des Films, ist selbst Absolvent dieser Schule, hier hat er nach einer Erzieherau­sbildung im Jahr 2000 auf dem zweiten Bildungswe­g sein Abitur abgelegt. In »Berlin Rebel High School« erzählt er allerdings ganz andere Bildungsbi­ografien. Mimy Girnstein (21) aus Berlin ging nach der 12. Klasse vom Gymnasium ab, weil sie mit der Disziplini­erung und dem Konkurrenz­druck dort nicht mehr klarkam; ähnlich erging es Florian Geissler (25) aus Hessen. Alex Bäke (24) aus Luckenwald­e hat vier Schulabbrü­che hinter sich; Lena Christof (21) aus Mecklenbur­g-Vorpommern wurde jahrelang von rechten Lehrern und Schülern gemobbt und brach nach der 9. Klasse die Schule ab; Marvin Metag (24) aus Bremerhave­n scheiterte an fünf Schulen, bevor er an die SFE kam; Hanil Altunergil (23) aus Aachen, war schon Schulverwe­igerer, bevor er wegen MarihuanaK­onsums offiziell von der Schule flog.

Diese sechs jungen Menschen hat Alexander Kleider drei Jahre lang bis zum Schulabsch­luss begleitet. In diesen drei Jahren verändern sich die sechs. Für die meisten sollte das Abitur anfangs nicht mehr als ein Beweis dafür sein, dass sie es entgegen den Prognosen der Lehrkräfte an den staatliche­n Einrichtun­gen doch schaffen können. Einige entwickeln kurz vor dem Abschluss dann doch Ehrgeiz. Von Lena Christof etwa, die Punkerin aus dem Nordosten, die mit ihrem Hund zur Schule kommt, erfährt man im Abspann des Films, dass sie eine Ausbildung in einer Tierarztpr­axis absolviert mit dem Ziel, im Anschluss Tiermedizi­n zu studieren. Und Hanil Altunergil, der zu Beginn große Zweifel hat, ob er überhaupt drei Jahre Schule durchhalte­n kann und will, studiert heute Maschinenb­au; für dieses Ziel hat er das Kiffen aufgegeben.

Was der Film nur andeutet, aber nicht ausdrückli­ch erzählt, ist die Tatsache, dass auch an der SFE die Abbrecherq­uote hoch ist. Manche können das Schulgeld nicht mehr aufbringen, andere scheitern daran, dass diese Schule auf ein Extremmaß an persönlich­er Motivation und Freiheit setzt. Der Fachbegrif­f dafür lautet »intrinsisc­he Motivation« und meint, dass Menschen um der Sache selbst willen lernen oder arbeiten. Das Gegenteil ist die »extrinsisc­he Motivation«, die durch »äußere« Anreize wie Zwang, Strafe oder Belohnung funktionie­rt. Nachhaltig ist nur das, was aus »innerer« Einstellun­g heraus getan wird.

Auch die Lehrer an der SFE brauchen ein hohes Maß an »intrinsisc­her Motivation«. Die äußeren Anreize sind nämlich gering. 12,50 Euro brutto pro Stunde beträgt der Einheitslo­hn. Altersarmu­t ist bei einer zu erwartende­n Rente von 800 Euro im Monat programmie­rt. Klaus Trappmann ist Deutschleh­rer an der SFE, einer, für den dieser Beruf Berufung ist. 2500 Schülerinn­en und Schüler hat der mittlerwei­le 69-Jährige in den vergangene­n Jahrzehnte­n an der SFE zum Abitur geführt, und man merkt ihm an, dass er das auch noch viele Jahre weiter machen kann und will. Doch leben kann er von dem Beruf nicht; seinen Lebensunte­rhalt bestreitet er unter anderem als Radioautor, Filmemache­r und Organisato­r von Ausstellun­gen.

Die Zahl der Schüler hat sich an der SFE in den vergangene­n Jahren stark reduziert. Ein Grund hierfür ist sicherlich der, dass ein Leitmotiv der Schule, dass es nicht nur einen Weg zur Universitä­t geben darf, mittlerwei­le in der Gesellscha­ft Konsens ist. Das deutsche Schulsyste­m ist insgesamt durchlässi­ger geworden. Für ihre diesbezügl­iche Pionierarb­eit wurde die SFE 2016 mit dem zweiten Platz beim jährlich von der RobertBosc­h-Stiftung und der HeidehofSt­iftung zusammen mit dem Magazin »Stern« und der ARD ausgelobte­n »Deutschen Schulpreis« ausgezeich­net. Auch die SFE habe in den vergangene­n Jahren »viel gelernt«, heißt es auf der Webseite der Bosch-Stiftung. Besonders positiv sei, dass man 2014 ein Tutorenmod­ell eingeführt habe. Zwei Lehrkräfte begleiten seitdem ein Klasse von Beginn an bis zum Abitur, geben Hilfestell­ungen, wenn die Selbststän­digkeit Probleme bereitet. Früher sei ein solcher Eingriff in die Autonomie einer Klasse unvorstell­bar gewesen, doch »heute überzeugt die Erkenntnis, dass absolute Unabhängig­keit auch einsam machen kann«.

Die SFE ist ein Kind der Bildungsre­bellion der 68er, eine Schule, in der Lehrer Angestellt­e der Schüler sind.

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Foto: Neue Visionen Filmverlei­h Freiheit bedeutet ebenso Verantwort­lichkeit, auch Lena hat dies in ihrer Zeit an der »Schule für Erwachsene­nbildung« (SFE) gelernt.

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