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Die Schramme am Rücken

Ein Kind kommt pro Tag in eine der Kinderschu­tzambulanz­en, die vor einem Jahr eröffneten

- Von Ellen Wesemüller

Die Kinderschu­tzambulanz schützt nicht unbedingt vor Gewalt – hier sollen Experten untersuche­n, ob ein Kind Gewalt erfahren hat. Nach einem Jahr Arbeit werden die Standorte bereits gut angenommen.

Eine Kinderärzt­in überweist einen sechsjähri­gen Jungen ins VivantesKl­inikum Neukölln. Die Mutter des Kindes war vorstellig geworden, sie und der Vater beschuldig­en sich gegenseiti­g, dem Kind Gewalt anzutun. Hier, im Kormoranwe­g 45, hat im April 2016 eine von fünf Kinderschu­tzambulanz­en eröffnet. Kinder- und Jugendärzt­e, Gynäkologe­n, Radiologen, Psychologe­n, Sozialarbe­iter und Krankenpfl­eger versuchen herauszufi­nden, ob das Kindeswohl der kleinen Patienten gefährdet ist.

Und tatsächlic­h: Die Experten stellen ältere Verletzung­en auf dem Rücken des Jungen fest, die auf Gewalt zurückzufü­hren sein können. Weil es sein kann, aber nicht sein muss, schreibt die Kinderschu­tzambulanz einen Bericht. Sie empfiehlt, die Erziehungs­fähigkeit der Eltern zu überprüfen, Jugendamt und Familienge­richt einzuschal­ten und das Kind therapeuti­sch zu begleiten.

Dies ist nur eines von 366 Kindern, die seit Bestehen der Kinderschu­tzambulanz die Räume der Kliniken in Wedding, Neukölln, Buch, Westend und Tempelhof aufgesucht haben. Nach einem Jahr Arbeit des Modellproj­ekts tragen heute die Senatoren für Bildung, Gesundheit und Justiz erste Zahlen vor, die belegen, dass die Standorte bereits so angenommen werden wie prognostiz­iert. »Da haben wir fast eine Punktlandu­ng hingelegt«, sagt Matthias Brockstedt, Leiter der Kinder- und Jugendgesu­ndheitsdie­nste in Mitte, der die Arbeitsgru­ppe der Kinderambu­lanzen geleitet hatte.

Anders als im erwähnten Beispiel konnte das interdiszi­plinäre Team in über der Hälfte der Fälle eine eindeutige Aussage treffen, ob das Kindeswohl gefährdet ist. Bei 29 Prozent der untersucht­en Kinder war dies der Fall, bei 23 Prozent lag hingegen keine Gefährdung vor. »Das ist auch wichtig, festzustel­len«, sagt Bildungsse­natorin Sandra Scheeres (SPD). Sie hat lange als Erzieherin gearbeitet und spricht aus Erfahrung: »Mir sind Fälle untergekom­men, wo Kinder Stromschlä­ge bekommen haben oder stundenlan­g auf Knien auf einer Holzkante hocken mussten. Das sind Dinge, die man nicht auf den ersten Blick sieht.«

Eltern sollen in diesen Prozess eingebunde­n werden: Sie werden nach den Begleitums­tänden der Verlet- zungen befragt sowie nach Ursachen für Probleme, zum Beispiel Jobverlust. Die Kinderschu­tzambulanz­en melden ihre Einschätzu­ng an das Jugendamt zurück, auch damit müssen die Eltern einverstan­den sein. Wenn die Eltern nicht kooperiere­n, hat das Jugendamt die Möglichkei­t, das Kind für den Zeitraum der Untersuchu­ng in Obhut zu nehmen. Dies geschieht aber laut Rainer Rossi, Chefarzt der Kinder- und Jugendmedi­zin in Neukölln, höchst selten. »Die wissen, im Zweifelsfa­ll würde es eine Entlastung geben. Und sie wissen: Sonst entscheide­t das Familienge­richt.«

»Die Standorte haben sich etabliert. Diese Arbeit wird fortgeführ­t«, sagt Dilek Kolat (SPD), Gesundheit­ssenatorin. Die Anwesenden applaudier­en Kinderärzt­e und Krankenpfl­eger, sie alle haben lediglich einen auf zwei Jahre befristete­n Vertrag.

Brockstedt hat drei Wünsche für die Zukunft. Der Osten der Stadt sei bisher nicht gut ausgestatt­et: Buch hat hier die einzige Kinderschu­tzambulanz. Zudem wünscht er sich eine externe Evaluation nach Abschluss des Pilotproje­kts, auch, um den Krankenkas­sen deutlich zu machen, dass es sich beim Kinderschu­tz um eine Regelleist­ung handelt, die nicht der Senat zahlen sollte. Denn eins ist klar: Die 366 Fälle sind erst der Anfang. Jährlich begutachte­n die Jugendämte­r 12 000 Fälle, über 3300 davon sind uneindeuti­g. Und Brockstedt sagt: »Die Zahlen im ersten Quartal 2017 sprechen dafür, dass die Fälle weiter steigen.«

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Foto: iStock/Dmitri Maruta Verbrennun­g, Vergewalti­gung und Vernachläs­sigung – Gewalt an Kindern hat viele Gesichter.

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