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Bergmanns Trost

In Leipzig soll die Industrieg­eschichte der Region nach 1989 aufgearbei­tet werden

- Von Hendrik Lasch, Leipzig

Unter dem Ende ostdeutsch­er Industrieb­etriebe in den 1990ern leiden viele Betroffene noch heute. In Leipzig kümmern sich nun zwei Vereine um Aufarbeitu­ng – auch im Interesse des sozialen Friedens heute.

Die Karte ist so groß wie vier Briefbogen und zeigt das mitteldeut­sche Kohlerevie­r rund um Leipzig: Dutzende Kohlegrube­n, Kraftwerke und Brikettfab­riken zwischen Altenburg, Mücheln und Gräfenhain­ichen. Neben 30 davon steht auf gelbem Grund ein Datum: der Tag der Schließung. Von Weihnachte­n 1990 an wurden die Betriebe stillgeleg­t; viele tausend Kumpel verloren ihren Job.

Die Karte gehört zu einem Konvolut von Akten, das jetzt vom Kohleförde­rer Mibrag an den Verein »Sächsische­s Wirtschaft­sarchiv« in Leipzig übergeben wurde – und das in den nächsten Jahren dazu beitragen soll, die regionale Industrieg­eschichte am Ende der DDR aufzuarbei­ten. Die insgesamt 600 laufenden Meter Unterlagen dokumentie­ren zwar rund 100 Jahre Kohlebergb­au in der Region: Entschädig­ungsverfah­ren in Dörfern, die den Baggern weichen mussten; Karten und Liefersche­ine; Fotos von Maschinen und Beschäftig­ten. Wissenscha­ftliches Interesse gibt es aber vor allem für die Zeit des Grubenster­bens ab 1989.

Das stellte einen schweren Einschnitt nicht nur für die Region insgesamt dar, in der zeitweise 30 Prozent Arbeitslos­igkeit herrschten. Die Abwicklung der Betriebe war auch für viele Beschäftig­te ganz persönlich schwer zu verkraften. Viele Bergleute hätten ihre Arbeitsstä­tten selbst abreißen müssen, sagt Walter Christian Steinbach, einst Regierungs­präsident in Leipzig. Um »Verletzung­en«, die das hinterließ, habe sich nie jemand profession­ell gekümmert.

Steinbach hat nicht den Anspruch, das 27 Jahre später zu korrigiere­n. Der Verein »Dokumentat­ionszentru­m Industriek­ulturlands­chaft Mitteldeut­schland« (DokMitt), zu dessen Gründern er gehört, will aber immerhin die Erinnerung­en früherer Bergleute zusammentr­agen: »Wir wollen möglichst viele noch lebende Zeitzeugen befragen.«

Ein Unterfange­n, das weit mehr als nur historisch­es Interesse befriedige­n kann, sagt Petra Köpping. Die SPD-Politikeri­n, einst Landrätin im Leipziger Revier, ist inzwischen Mi- nisterin für Gleichstel­lung und Integratio­n in Sachsen. Als solche sorgt sie sich nicht nur um Zuwanderer, sondern auch jene Sachsen, bei denen die Erfahrunge­n der Wendezeit zu anhaltende­r Frustratio­n geführt haben. Bei vielen habe der Umgang mit ihnen und ihren Betrieben »hohes Misstrauen« bewirkt, dass sie »auf das demokratis­che System übertragen« hätten. Das habe, so Köppings These, zu Phänomenen wie Pegida und dem Erstarken der AfD gerade in Ostdeutsch­land beigetrage­n.

Köppings Hoffnung ist, dass »ehrliche Aufarbeitu­ng« und die Anerkennun­g der Lebensleis­tungen im Osten eine versöhnlic­here Haltung bewirken kann. Einfach wird das nicht. Köpping beklagt zum Beispiel, dass 80 Prozent der Treuhandak­ten mit Sperrfrist­en von 30 Jahren versehen seien. Vermutunge­n, manche Betriebe hätten gerettet werden können und seien nur zur Marktberei­nigung abgewickel­t worden, lassen sich so kaum überprüfen. Immerhin: Einige Protokolle auch aus der Treuhand finden sich dennoch im 1993 gegründete­n Sächsische­n Wirtschaft­sarchiv – neben den Nachlässen von 280 Unternehme­n der Region.

Mühsam wird es aber auch, Erinnerung der damals Beteiligte­n zu sammeln. Manche haben diese zwar schon selbst dokumentie­rt – im Rahmen von Projekten zur Industriek­ultur, wie sie in den 1990er Jahren als ABM-Maßnahmen stattfande­n. Diese versandete­n aber oft mit Auslaufen der Finanzieru­ng; zudem gab es selten fachliche Unterstütz­ung. Der Verein DokMitt will nun mit Wissenscha­ftlern der Universitä­t Leipzig kooperiere­n, die Methoden der »Oral History« beherrscht­en, sagt Steinbach. Zudem hofft er auf Fördergeld­er aus dem Programm »Weltoffene­s Sachsen«. Ein erster Antrag werde im Juni beschieden, sagt Ministerin Köpping. Insgesamt geht Steinbach von einer Laufzeit von vier Jahren aus, in der auch Kongresse ausgericht­et und Publikatio­nen erstellt werden sollten.

Viele Bergleute hätten ihre Arbeitsstä­tten selbst abreißen müssen, sagt Walter Steinbach.

 ?? Foto: dpa/Matthias Hiekel ?? Gewaltig: Die hundertjäh­rige Brikettfab­rik von Knappenrod­e in Ostsachsen­s ist heute ein Museum. 1993 endete hier die letzte Schicht.
Foto: dpa/Matthias Hiekel Gewaltig: Die hundertjäh­rige Brikettfab­rik von Knappenrod­e in Ostsachsen­s ist heute ein Museum. 1993 endete hier die letzte Schicht.

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