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Als sich Sinti und Roma wehrten

- Von Ingrid Heinisch

Am16. Mai 1944 erblickte im sogenannte­n Zigeunerla­ger von Auschwitz-Birkenau ein Kind das Licht der Welt: Edmund Weiss. Er hatte keine Überlebens­chance. Mager, klein und untergewic­htig hätte er besondere Fürsorge gebraucht, aber im »Zigeunerla­ger« gab es kaum Nahrung für Säuglinge. Ihre Mütter waren selbst halb verhungert, dem Tode nahe.

An diesem Tag jedoch ist Edmunds Leben doppelt bedroht. Denn die Lagerführu­ng hatte am Vortag beschlosse­n, das »Zigeunerla­ger« zu liquidiere­n. Was nicht gelang: Die Häftlinge wehrten sich – erfolgreic­h.

Etwa 20 000 Sinti und Roma waren in dieses Sonderlage­r gepfercht worden: Männer, Frauen und Kinder, von der SS ab 1942 im gesamten »Reich« verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie in dreißig Pferdebara­cken untergebra­cht waren. Ihre Verpflegun­g war noch schlechter als die der übrigen Häftlinge, die hygienisch­en Verhältnis­se noch katastroph­aler. Die Sterblichk­eitsrate war ungeheuer hoch.

Am 15. Mai 1944 beschloss die Lagerleitu­ng, das »Zigeunerla­ger« mit damals etwa 6000 Menschen zu »liquidiere­n«. Am 16. Mai abends wurde Blocksperr­e angeordnet. Doch die Häftlinge waren durch einen SS-Mann gewarnt und vorbereite­t.

Hugo Höllenrein­er, Sohn eines Münchener Fuhruntern­ehmers, der in der Wehrmacht gedient und schließlic­h als »Zigeunermi­schling« entlassen worden war, beobachtet­e von seiner Pritsche aus das Geschehen: »Papa stand unten, gerade, mit dem Pickel in der Hand und einer seiner Brüder mit einem Schaufelst­iel, einer links,

Der Aufstand hatte Erfolg, ein einmaliges Ereignis in Auschwitz.

einer rechts. Draußen gingen sie auf das Tor zu, bestimmt sieben, acht Mann. Der Papa hat einen Schrei losgelasse­n. Die ganze Baracke hat gezittert, so hat er geschrien: ›Wir kommen nicht raus. Kommt ihr rein. Wenn ihr was wollt, müsst ihr reinkommen. Wir warten hier.‹ Die blieben stehen, es war still. Nach einer Weile kam ein Motorrad angefahren, die unterhielt­en sich draußen, dann sind sie weggefahre­n, der Lastwagen ist weitergefa­hren. Wir haben alle aufgeatmet.«

Das gleiche geschah in den anderen Baracken. Die Häftlinge, oft ehemalige Wehrmachts­soldaten wie Hugos Vater, hatten sich bewaffnet, mit Stöcken, Schaufeln und Messern, die sie sich aus Blech geschliffe­n hatten. Das Unglaublic­he geschah: Die SS rückte ab. Der Aufstand hatte Erfolg, ein einmaliges Ereignis in Auschwitz.

Es war ein Triumph von kurzer Dauer. In der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 1944 wurde das »Zigeunerla­ger« schließlic­h doch »liquidiert«. Nicht ohne Widerstand, wie ein SS-Mann später aussagte: Schlägerei­en brachen aus, es wurde geschossen. SS-Verstärkun­g rückte an. Die Häftlinge nutzen selbst Brotlaibe als Wurfgescho­sse. Aber die SS war letztlich übermächti­g. Die ihr unterlegen­en Sinti und Roma wurden gnadenlos in die Gaskammern geschickt. Der kleine Edmund Weiss lebte da schon längst nicht mehr.

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