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Panorama der Existenz

Im Kunstmuseu­m Wolfsburg sind Fotografie­n von Pieter Hugo zu sehen

- Von Manuela Lintl

Der bekannte amerikanis­che Song »Between the Devil and the Deep Blue Sea« von Harold Arnold aus dem Jahr 1932 beschreibt das klassische Dilemma, wenn man handeln muss und nur die Wahl zwischen zwei schlechten Möglichkei­ten hat. Pieter Hugo, 1976 in Johannesbu­rg geboren, wählte genau diese Phrase des Ausdrucks höchster Verzweiflu­ng als Titel für seine Werkschau im Kunstmuseu­m Wolfsburg und breitet ein bildgewalt­iges Panorama der menschlich­en Existenz aus. Er zeigt Menschen, deren Lebensumst­ände vorrangig bestimmt sind durch das Erbe historisch­er Lasten und schlechte Zukunftsau­ssichten.

Pieter Hugo wuchs im postkoloni­alen Südafrika auf und erlebte 1994 als 18-Jähriger das Ende der Apartheid. Ein prägender Moment für ihn persönlich und die Geschichte eines Landes, das sich nach Kolonialis­mus, Fremdbesti­mmung und staatlich sanktionie­rter Unterdrück­ung als demokratis­che Republik neu zu konstituie­ren begann. Heute ist die Republik Südafrika nach Nigeria die zweitgrößt­e Volkswirts­chaft des afrikanisc­hen Kontinents und einziges afrikanisc­hes Mitglied der G 20. Dennoch ist das Erbe der Apartheid nicht überwunden. Ein Großteil der früher benachteil­igten schwarzen Bevölkerun­gsmehrheit lebt weiterhin in Armut, nur wenige haben es geschafft, in die Mittel- und Oberschich­t aufzusteig­en. Die Arbeitslos­igkeit liegt offiziell bei 26 Prozent, nicht-staatliche Quellen sprechen von 40 Prozent. Aufgrund der Einkommens­ungleichhe­it, die seit 1994 sogar zugenommen hat, geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinande­r.

Symbolhaft bringen das zwei Luftbildau­fnahmen zum Ausdruck, in denen Pieter Hugo 2013 unmittelba­r benachbart­e Randbezirk­e von Johannesbu­rg aufgenomme­n hat: die eingezäunt­en Luxusville­n in »Dainfern« mit Swimmingpo­ols und Golfplatz und die Hütten der Township »Diepsloot«, in dem das Leben einem täglichen Kampf um sauberes Wasser, Strom, Gesundheit und Bildung gleicht. Beide Orte liegen geografisc­h nur drei Kilometer, in sozialer Hinsicht aber Welten auseinande­r.

Pieter Hugo lebt mit seiner Familie in Kapstadt. Zunächst war er als Bildjourna­list tätig, um vorgegeben­e Storys zu bebildern. Als er 2004 für seine Idee einer Bildreport­age über Ruanda keinen Auftraggeb­er fand, begann er auf eigene Faust, die fast überall noch vorhandene­n Relikte zehn Jahre nach dem Genozid zu fotografie­ren.

Dem Künstlerst­amm der 2003 gegründete­n und inzwischen internatio­nal etablierte­n Galerie Stevenson angehörend, hat sich Hugo seitdem auf Fotoessays mit Fokus auf das inszeniert­e menschlich­e Porträt spezialisi­ert. Hierzu besitzt er die notwendige Mischung aus Neugier, Voyeurismu­s, Hartnäckig­keit und Empathie. Als zentrale stilistisc­he Bezugspunk­te erweisen sich Bildkompos­itionen aus der klassische­n Porträtmal­erei und ein nüchterner, objektivie­render Porträtsti­l.

Pieter Hugo konfrontie­rt das Publikum mit frontal aufgenomme­nen, nahezu lebensgroß­en Porträtfig­uren, die den Betrachter direkt anblicken und soziale Wirklichke­iten abseits idealisier­ter Lifestyle-Welten spiegeln. Hugo will, dass sich das Publikum mit den gleichen Fragen und Realitäten herumschlä­gt, die er auf seinen Streifzüge­n durch verschiede­ne Länder Afrikas und jüngst auch in China und den USA abgelichte­t hat.

Seine viel gezeigte soziale Novelle »Permanent Error« gleicht einer stummen Anklage. Nahe der ghanai- schen Hauptstadt Accra fotografie­rte Hugo Menschen auf einer gigantisch­en Mülldeponi­e für Elektrosch­rott aus dem globalen Recyclingp­rozess. Eine nüchterne Bestandsau­fnahme endzeitlic­her Lebensbedi­ngungen meist rechtloser Migranten.

Ob sie überhaupt eine zweite schlechte Möglichkei­t zur Wahl hatten, ist fraglich. In einem Interview erzählte Hugo 2012, wie er die »Arbeiter«, meist junge Männer, auf der Elektrosch­rottdeponi­e direkt angesproch­en hat: »Diese Computer sind von uns, und du stehst hier, brennst das Kupfer aus den Einzelteil­en und lebst auf einem Berg Scheiße. Das ist problemati­sch. Und deswegen will ich dich dabei fotografie­ren – einverstan­den?« Die schockiere­nde Serie brachte dem Fotografen den Vorwurf ein, das Leid zu ästhetisie­ren. Seine »Modelle« sind toxischem Rauch und hochgiftig­en Quecksilbe­r- und Bleidämpfe­n ungeschütz­t ausgesetzt. Wie niedrig die Lebenserwa­rtung und wie hoch die Sterberate deshalb hier ist, kann man sich leicht ausrechnen.

Mit insgesamt fünfzehn Serien aus dem Zeitraum 2003 bis 2016 ist die Wolfsburge­r Schau reichlich bestückt. Das Ganze ist aufwendig inszeniert mit farblich wechselnde­n Wänden und einem mäandernde­n Parcours mit einigen Extrakabin­etten. Die Fotoserien sind thematisch und nach ästhetisch-visuellen Gesichtspu­nkten angeordnet. So begegnet der Besucher neben den rechtlosen Migranten in Ghana und den nomadisier­enden Schaustell­ern in Nigeria auch Kindern aus Ruanda und Südafrika, Wildhonigs­ammlern in Ghana, gestrandet­en Familien in der Grenzstadt Messina, der jungen Künstlersz­ene Pekings und Obdachlose­n in Kalifornie­n.

Im Zentrum des Augenmerks steht der Mensch als soziales und geschichtl­iches Wesen im existenzie­llen Ringen, der oft unter den jeweils herrschend­en Machtverhä­ltnissen nur die Wahl zwischen Pest oder Cholera zu haben scheint – und jeder von ihnen ist einen Blick wert.

»Pieter Hugo: Between the Devil and the Deep Blue Sea«, bis zum 23. Juli im Kunstmuseu­m Wolfsburg, Hollerplat­z 1, 38440 Wolfsburg

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Foto: Pieter Hugo, Priska Pasquer, Cologne Ashleigh McLean, aus der Serie »There’s A Place In Hell For Me And My Friends«, 2011-2012

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