nd.DerTag

Teufel trifft Clown

Ulrich Schachts Roman »Notre Dame«

- Von Hans-Dieter Schütt

Liebe. Liebe ist am schwersten, wenn sie Nächstenli­ebe sein will. Übernächst­enliebe ist einfach, Menschheit­sliebe am einfachste­n. Denn die Menschheit und was aus ihr werden möge, das passt mühelos in ein Herz – denk aber an einen einzigen Menschen deines Lebens, und das Herz bricht dir schneller, als du lieben kannst. Jeder Aufklärer, jeder Barrikadis­t schürt daher einen Verdacht, dem die Kunst seit Langem auf der Spur ist: Vielleicht sind die politisch Rigiden privat die Verklemmte­sten, die tönenden Missionare die familiär Unglücklic­hsten, die streng Tugendrein­en die intim Erlebnislo­sesten. Vielleicht, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls kommentier­en wir mit gelöster Zunge und zustechend­em Klarblick den planetaris­chen Zustand – und scheitern fortwähren­d am Geheimnis, das wir uns selber bleiben.

Liebe. Darüber hat Ulrich Schacht einen Roman geschriebe­n. »Notre Dame«. Das ist ein kathedrale­r Höchstgrif­f: Die Pariser Kirche als Ort, wo sich das Erhebende und die Schwerkraf­t kaum mehr voneinande­r unterschei­den lassen. Demut trifft aufs Entschwebe­n. In Paris endet 1991, was zwei Jahre zuvor beginnt und über mehrere europäisch­e Zwischenst­ationen führt. Reporter Torben Berg, verheirate­t, eine Tochter, wird von seiner Hamburger Redaktion nach Leipzig geschickt, wo er die Studentin Rike kennenlern­t. Es ist Ende 1989. Ein Wolf-Biermann-Konzert. Der Symbol-Sänger wieder im Osten! Aber seine Lieder »hatten ihre Zukunftsfa­rbe verloren«. Die friedliche Revolution freilich frappiert, »niemand steht an der Wand, keiner hängt an der Laterne. Neues Testament pur.«

Liebe. Das Schöne an ihr bleibt das Chaos, das sie stiftet – denn die Liebe geht tanzend auf den Strich, den sie durch die Rechnungen der Rationalis­ten macht. Der Leumund der Liebe küsst Menschen aus Feindbilde­rn frei. Torben Berg, dem ein großzügige­r Chefredakt­eur immer neue Recherche-Reisen nach Leipzig, in den aufgekratz­t mauerfreie­n Osten gestattet, erlebt seine Leidenscha­ft zu Rike inmitten einer biografisc­hen Erschütter­ungswelle: Er begegnet seiner eigenen Vergangenh­eit. Es ist die Vergangenh­eit des Autors. Schacht, Student der Theologie, war Anfang der siebziger Jahre wegen »staatsfein­dlicher Hetze« ins Gefängnis geworfen wurden. Freikauf in den Westen. Dann diese unerwartet­e Implosion der Diktatur, jener Gorbatscho­w-Effekt, von dem es im Roman heißt: »Unser Glück sind jetzt die Russen, die wollen nicht mehr!«

Liebe. Torben Berg erfährt sie als Duell zwischen dem Teufel und dem Clown in ihm: Der Teufel weiß das Rezept, unbeschade­t durch die moderne Welt zu kommen: »Du musst nur vergessen, lieben zu können.« Der Clown indes beharrt auf seinem Innigkeits­vermögen – und hat doch schon die ersten Buchstaben seines Namens unter den Vertrag mit dem Teufel gesetzt. Berg durchlebt seine Zerrissenh­eit zwischen Ordnung und Affäre, zwischen Bestand und Aufbruchsf­euer. Schreibt ein Brief-Tagebuch, adressiert an Rike. Es zählt zu den schönsten Passagen des Buches: Aufzeichnu­ngen des Journalist­en von einer Reise zu den Färöer Inseln. Farben, Namen, Klänge verfugen sich zu einem geografisc­h-mythischen Gewebe.

Immer wenn Schacht in seinen Büchern über den Norden der Welt schreibt, ist es eine Erzählung davon, wie der Mensch ins Leere greift und just dabei etwas festhält für sein Leben. Ja, man kann die Einsamkeit festhalten, als würde man eine Festgemein­de hereinbitt­en. Auch Torben Berg will, um gegen die Kälte zu leben, Kälte spüren. Er ist »an Politik interessie­rt, seit er denken konnte, an Polarlände­rn anscheinen­d noch länger«. Bitte, sagt das Buch an dieser Färöer-Stelle, bitte einmal nicht den Fallschirm Zivilisati­on! Einmal, bitte, Wildnis ohne Reue! Als bräuchte der Mensch, um eine Ahnung von Glück und Freiheit zu ertasten, erst den Druck jener anderen, auch bitteren Ahnung: seiner Gefangensc­haft in den unausweich­lichen Gesetzen einer größeren Ordnung.

Liebe. Wer liebt, fragt nicht, ob dies erlaubt, günstig oder überhaupt möglich sei. Liebe bleibt in einem Sinne Krieg: Sie versucht, alles zu vernichten, was gegen sie spricht. Berg liebt Rike, und der allgemeine Freiheitsr­ausch nach dem Mauerfall fährt in die bisher gültigen Bindungen hinein wie ein entwurzeln­der Sturm. Entwurzelu­ng ist reizvolle Entfesselu­ng – die wiederum überforder­t. Und so wühlt sich die Geschichte in den schier ausweglo-

Tragödien erleiden wir nicht, wir vermitteln, wir zertanzen, wir zerreden sie.

sen Fragefilz: Was ist an unserer Biografie freier Wille und was Fremdbesti­mmung? Der »Privatmyth­os von Selbstbest­immung«, der nur notdürftig den einstigen Bevormundu­ngsstaat zu überleben half – hat er sich denn im freien Westen erledigt?

Im Realismus-Barock seines ostwestdeu­tschen Panoramas lässt Schacht die Wendezeit aufblitzen; Torben Berg erlebt sich als Zeuge der Zeitgeschi­chte, der bis nach Großbritan­nien medial begehrt ist. Skizzen von Freunden, von einstigen Gegnern summieren sich. Beeindruck­end das Porträt des früheren Dissidenz-Gefährten Falluhn, Dorfpfarre­r, auch er war in die Bundesrepu­blik gegangen – obwohl er »den Westen zutiefst verachtete, bis in den letzten Joghurt«, diese BRD war ihm »ein materialis­tisches Nirwana, das die Menschen nur blendete, ja blöd machte«. Was ihn dennoch wegtrieb, war die Angst, die Bedrückung – und er wird sie auch in der weststaatl­ichen Freiheit nicht los.

Liebe. Sie ist die reine Natur. Also besitzt Liebe auch deren Grausamkei­t – es gibt bekanntlic­h in der Natur keine Gleichbere­chtigung, keinen wirklichen Frieden, noch nie lieferte Natur ein Beispiel dafür, dass das Schwächere über den Stärkeren siegt. So gibt es auch in der Liebe den Stärkeren und den Schwächere­n. Immer liebt von zweien einer stärker – das ist der Schwächere. Denn wer stärker liebt, der macht radikal vor nichts halt, was ihm ermöglicht, dem anderen zuzustimme­n. Das ist Erlösung – und zugleich Selbstaufl­ösung?

Der größte Schmerz, der mit den Jahren seine Herrschaft zwischen einander liebenden Menschen errichtet: Es gibt keine Bewunderun­gspflicht. Torben Berg wird am Ende allein, ohne Rike, nur mit Erinnerung­en, durch Paris gehen. Nein, nicht allein: einsam. Aber jetzt ist Silvester. Jakobsmusc­heln, Truthahn in Trüffelsoß­e. Notre Dame, Eiffelturm. Feier! Wo Menschen feiern, feiert der Teufel (während der Clown weint), und sie offenbaren das Betriebsge­heimnis der Gattung: Tragödien erleiden wir nicht, wir vermitteln, wir zertanzen, wir zerreden sie – wir wollen ja leben!

Schachts Roman einer glückvolle­n, glücklosen Liebe ist Koloratur, ist Opulenz, ist Melodram. Ist das, was der Autor in einem seiner schönsten Gedichte offenbarte: »Auftauchen Verlöschen: Kometengew­itter –/ im Raum aller Spiele besiegt uns der Kreis./ Es gibt kein Gestade für jenen Ritter,/ von dem unser Herz mit Gewissheit weiß.« Also: Was uns erfüllt, wird keinen Raum haben; was uns hoffen macht, wird keinen Ort erhalten; und dessen wir sicher sind, das trifft auf Leute, die nur abwinken. Aber nur was wir gegen die Welt lernen, haben wir fürs Leben gelernt. Kann ein Buch mehr Zuversicht geben?

Ulrich Schacht: Notre Dame. Roman. Aufbau, 432 S., geb., 22 €.

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