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Gegen jede Vernunft

Indien will die Atomkraftk­apazitäten seines Landes verdreifac­hen

- Von Thomas Berger

Während sich andere Staaten spätestens seit der Katastroph­e in Fukushima von der Atomkraft verabschie­den, hält Indien daran fest. Das Kabinett hat jetzt für zehn neue Reaktoren grünes Licht gegeben.

Von kritischem Überdenken bisheriger Weichenste­llungen keine Spur: Die Regierung von Premier Narendra Modi von der konservati­v-hindu-nationalis­tischen Bharatiya Janata Party (BJP) will eher noch weiter Druck machen, um das, was einst an Atomkraftw­erksplänen auf den Weg gebracht wurde, auch zügig umzusetzen. Mit dem aktuell bekannt gemachten Beschluss, zehn neue Nuklearrea­ktoren mit einer Gesamtleis­tung von 7000 Megawatt (MW) zu bauen, verdreifac­hen sich mittelfris­tig die Kapazitäte­n des Landes bei der zivilen Nutzung der Atomkraft. Derzeit sind an acht Kraftwerks­tandorten insgesamt 22 Reaktoren installier­t, die bei voller Auslastung 6780 MW liefern können. Noch einmal die gleiche Größenordn­ung werden jene Neubauten bringen, die bereits in der Konstrukti­on sind.

Bei den zehn Anlagen, die nun abermals dazukommen sollen, handelt es sich um Schwerwass­erreaktore­n des modernsten Typs einheimisc­her Bauart. Statt wie in der Vergangenh­eit zumeist auf Know-how aus dem Ausland zu setzen, wechselwei­se westliche oder russische Technik gemäß der indischen Erforderni­sse zu adaptieren, gilt nun auch bei der nuklearen Stromerzeu­gung ganz die Devise »Made in India«, die die Modi-Regierung als generelle ökonomisch­e Leitlinie ausgegeben hat.

Die neuen Investitio­nen in Sachen Atomkraft hätten einen Umfang von 700 Milliarden Rupien, also knapp zehn Milliarden Euro, jubelte unter anderem das Wirtschaft­sblatt »Economic Times«. Energiemin­ister Piyush Goyal wird mit der Aussage zitiert, dass man sich direkt und indirekt mindestens 33 400 neue Jobs erhoffe. In der Tat stehen viele Unternehme­n in der Erwartung lukrativer Aufträge schon in den Startlöche­rn. So verwundert es nicht, wenn der Direktor von Larsen and Toubro, einem der größten Baukonzern­e, die Regierungs­entscheidu­ng gegenüber dem Nachrichte­nkanal NDTV als »historisch« bewertete.

Premier Modi hatte Anstrengun­gen zum Abbau der Energiekri­se im Land schon bald nach seinem Amtsantrit­t 2014 zu einem der Kernpunkte seiner Agenda erklärt. Dass die Kapazitäte­n zur Stromerzeu­gung ausgebaut werden müssen, um mit dem stetig steigenden Bedarf Schritt zu halten, stellt niemand in Frage. Noch immer gibt es Tausende Dörfer, die nicht einmal ans Stromnetz angeschlos­sen sind. Und selbst bei vielen, die offiziell als elektrifiz­iert gelten, haben nur wenige Häuser einen Anschluss oder die Versorgung ist äußerst lückenhaft.

Nicht nur die Privatbürg­er verlangen nach gesicherte­m Stromfluss. Auch weiteres Wirtschaft­swachstum, so der Konsens in Delhi, bedarf erweiterte­r Kapazitäte­n bei der Energieerz­eugung. Bisher steht Atomstrom dabei nach Kohle sowie Wasserkraf­t und anderen erneuerbar­en Energien wie Wind- und Solarstrom aber nur an vierter Stelle.

Indiens älteste Reaktoren, Nummer eins und zwei im Kraftwerk Tarapur (TAPS) im westlichen Unionsstaa­t Maharashtr­a, gingen mit einer Nenngröße von jeweils 160 MW 1969 in Betrieb. Seither wurde nicht nur dort die Anzahl der Reaktoren auf vier erhöht. Bereits sechs Anlagen sind es im Kraftwerk Rajasthan, wo noch zwei weitere in Bau sind. Und die beiden größten Reaktoren von je 1000 MW, der zweite erst Ende März ans Netz gegangen, stehen in Kudankulam im südlichen Bundesstaa­t Tamil Nadu. Gleich sechs Mega-Reaktoren von 1650 MW sollen in Jaitapur (Maharashtr­a) gebaut werden – ausgerechn­et in einem Erdbebenri­sikogebiet, wie nicht nur Greenpeace, sondern auch andere Kritiker warnen.

Selbst die Regionalre­gierung in Mumbai ist gespalten: Während die tonangeben­de BJP im April neue Gespräche mit den französisc­hen Partnern führte, steht der ebenfalls rechte Koalitions­partner Shiv Sena bereits seit 2008 an der Spitze der lokalen Widerstand­sbewegung. Auch in Kundakulam gibt es immer wieder Proteste, zudem an den Orten, wo das Uran zur Befeuerung der Anlagen abgebaut wird.

 ?? Foto: AFP/Dibyangshu Sarkar ?? Indische Proteste gegen Atomkraft nach der Katastroph­e im japanische­n Fukushima im März 2011
Foto: AFP/Dibyangshu Sarkar Indische Proteste gegen Atomkraft nach der Katastroph­e im japanische­n Fukushima im März 2011

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