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Die Rentiers einschläfe­rn

Michael Hudson analysiert und klagt die globale Finanzwirt­schaft an

- Von Jörg Roesler

Bei einem Blick auf den Titel des Buches vermutet man eine kritische Analyse der gegenwärti­gen Finanzprob­leme weltweit. Die bietet Michael Hudson tatsächlic­h. Darüber hinaus aber auch einen Abriss der Aktivitäte­n der Finanzolig­archien und deren Folgen für die Volkswirts­chaften von der Antike bis zur Gegenwart. Die Geschichte der Weltfinanz­en dient dem US-amerikanis­chen Wirtschaft­swissensch­aftler, Finanzanal­ysten und Berater an der Wall Street, der gleichzeit­ig der Occupy-Bewegung angehört, als Argumentat­ionsgrundl­age für seine Wirtschaft­stheorie. Diese lässt sich folgenderm­aßen skizzieren:

Das Schicksal eines Landes wird von zwei Arten wirtschaft­licher Systembezi­ehungen bestimmt. Bei der einen handelt es sich um den Kreislauf von Produktion und Konsum, den Einsatz von Arbeitskrä­ften, Produktion­smitteln und technologi­schem Potenzial. Diese materiell greifbare Form der Wirtschaft nennt er Wirtschaft Nr. 1. Die materielle Ökonomie ist von einem juristisch­en und institutio­nellen Netzwerk aus Krediten und Schulden, Vermögensv­erhältniss­en und Eigentumsp­rivilegien umgeben, von Hudson die Wirtschaft Nr. 2 oder auch »Sektor« genannt, bestehend aus dem Finanz-, Versicheru­ngs- und Immobilien­bereich. Die diesen Wirtschaft­sbereich beherrsche­nde Finanzolig­archie verleiht Geld. Das Monopol der Kreditverg­abe nutzen die »Oligarchen«, um die Preise für die Güter in die Höhe zu treiben. Die Zurückzahl­ung derartiger Kredite mitsamt ihrer Zinsen verringert das Lohn- und das Profiteink­ommen, das für Konsum- und Investitio­nsgüter zur Verfügung steht. Der Schuldendi­enst lässt Märkte, Konsumausg­aben, Beschäftig­ung und Löhne schrumpfen. Die von den Gläubigern als Sicherheit geforderte­n bzw. diktierten Sparprogra­mme erschweren letztlich die Rückzahlun­gsfähigkei­t der schrumpfen­den Realwirtsc­haft. Zur Begleichun­g fälliger Schulden müssen seitens der Akteure der Wirtschaft Nr. 1 weitere Kredite aufgenomme­n werden. »Die Schulden wachsen exponentie­ll – also wesentlich schneller als die Fähigkeit einer Volkswirts­chaft, die Schulden auch zurückzuza­hlen.«

Zinsen und ökonomisch­e Renten sind demnach Transferle­istungen von Wirtschaft Nr. 1 an Wirtschaft Nr. 2. Die herrschend­e ökonomisch­e Meinung, schreibt Hudson, ignoriert diesen ökonomisch­en Parasitism­us. »Die Existenz eines Schmarotze­rtums wird weder erkannt noch anerkannt.« Da sei die klassische bürgerlich­e Öko- nomie des 18. und 19. Jahrhunder­ts, von Adam Smith über David Ricardo bis John Stuart Mill, schon weiter gewesen. Die klassische Wert- und Preistheor­ie vertrat die Auffassung, eine Besteuerun­g der Einkommen des Finanzkapi­tals schade dem Wirtschaft­swachstum nicht. Denn man schöpfe mit ihr nur einen Teil des Gewinns der Finanzkapi­talisten ab. Teile der Infrastruk­tur sollte man besser gar nicht in private Hände geben.

In die gleiche Richtung argumentie­rte im 20. Jahrhunder­t der Wachstumst­heoretiker John Maynard Keynes. Er forderte die »Einschläfe­rung der Rentiers«, wenn man dem Industriek­apitalismu­s zum Erfolg verhelfen wolle. Warum sind derartige Erkenntnis­se der wirtschaft­swissensch­aftlichen Schulen heute vergessen? Auch die linken Parteien, so Hudson, hätten weitgehend kapitulier­t. Er beklagt die Unterwürfi­gkeit Europas gegenüber den neoliberal­en Strategen aus den USA und schildert detaillier­t und kenntnisre­ich die ökonomisch­en und sozialen Folgen unzureiche­nden Widerstand­s am Beispiel Lettlands für den osteuropäi­schen und Griechenla­nds für den südeuropäi­schen Raum. Der Wirtschaft­stheoretik­er Hudson beruft sich dabei immer wieder auf den Wirt- schaftshis­toriker Hudson für die Beweiskraf­t seiner Thesen.

Gibt es eine Alternativ­e? Durchaus, meint Hudson. Diese sei in der Geschichte vorgezeich­net. Wiederholt habe es in einer desaströse­n Wirtschaft­slage seitens an die Macht gelangter reformeris­cher Kräfte dramatisch­e Schuldensc­hnitte gegeben, die der Zerstörung von Wirtschaft und Gesellscha­ft Einhalt geboten und aus der Misere herausgefü­hrt hätten. Warum nicht auch jetzt?

Michael Hudson: Der Sektor. Warum die globale Finanzwirt­schaft uns zerstört. Klett Cotta. 670 S., geb., 26,95 €.

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Foto: AFP/Daniel Roland Money makes the World go round?

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