nd.DerTag

Realistisc­he Nachahmung

Was ist ein Tribunal?

- Cba

Wie so oft in der Geschichte deutschspr­achiger Alltagsbeg­riffe und Redewendun­gen, so geht auch die Popularisi­erung des Wortes »Tribunal« auf einen gewissen Friedrich Schiller zurück. In seiner Ballade »Die Kraniche des Ibykus« (1797) verwendete er den Terminus, um die Verwandlun­g eines Theaterpub­likums zur juristisch­en Instanz zu kennzeichn­en: »Die Szene wird zum Tribunal.« Es ist also auch diesem Dichter der Freiheit zu verdanken, dass Nichtregie­rungsorgan­isationen mit Mitteln des Theaters heute eine Bezeichnun­g zugunsten ihrer liberalen Ziele vereinnahm­en können, die über Jahrhunder­te hinweg für Repression und Gewalt stand.

Denn eigentlich findet der Begriff des Tribunals seinen Ursprung im antiken Rom. Dort bezeichnet­e man so eine Erhöhung, die die Legitimati­on zur Machtausüb­ung eines Amtsträger­s oder Feldherren im Lager und der Statthalte­r in den Provinzen symbolisch ausstellte. In Preußen verstand man das Tribunal später als Synonym für die höchste Gerichtsba­rkeit, später für politische Sondergeri­chte. Eines der wenigen positiv besetzten Beispiele ist das UN-Kriegsverb­rechertrib­unal.

Immer wieder wurde der Begriff in der jüngeren Zeitgeschi­chte von politische­n Aktivisten genutzt, um Missstände auf nationaler oder internatio­naler Ebene anzuprange­rn. Internatio­nal bekannt wurden etwa die RussellTri­bunale, die 1966 die US-amerikanis­chen Verbrechen im Vietnamkri­eg untersucht­en und dokumentie­rten. 1995 initiierte­n humanitäre Organisati­onen das Internatio­nale Menschenre­chtstribun­al gegen die Republik Österreich wegen Verfolgung und Diskrimini­erung von Lesben, Schwulen, Bisexuelle­n und Transgende­r-Personen.

Zuletzt gelangte im deutschspr­achigen Raum das bislang umfassends­te Tribunal zu Prominenz: Beim Kapitalism­ustribunal befand sich im Mai des vergangene­n Jahres im Brut Theater Wien das global dominante Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftssystem auf dem Prüfstand. Binnen sieben Tagen wurden sämtliche Klagen, die von jedem vorab eingereich­ten werden konnten, öffentlich vorgetrage­n und diskutiert.

Meist stellen Schauspiel­häuser ihre Räume für solche Tribunale zur Verfügung. Das liegt nahe, denn Theaterkün­stler entwickelt­en jene Methoden der realistisc­hen Nachahmung, die Aktivisten bei den Tribunalen nutzen. Damit hauchen sie dem berühmtest­en Spruch von Friedrich Schiller neues Leben ein: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«

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