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Anatomie einer Entführung

Guy Delisles Graphic Novel »Geisel« schildert, wie der Selbstbeha­uptungswil­le bei einem totalen Freiheitse­ntzug überlebt

- Von Waldemar Kesler

Der Frankokana­dier Guy Delisle wird zu Recht für seine launigen Comic-Reiserepor­tagen gefeiert. Bei seinen Streifzüge­n durch fremde Kulturen und gespaltene Gesellscha­ften erwies er sich als witziger Beobachter bizarrer Alltagssze­nen. Seine Arbeit für die Trickfilmi­ndustrie führte ihn nach China (Shenzen) und Nordkorea (Pjöngjang). In Myanmar (»Aufzeichnu­ngen aus Birma«) und Israel (»Aufzeichnu­ngen aus Jerusalem«) war er als Anhang seiner Frau Nadège unterwegs, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitete. Durch die Hilfsorgan­isation lernte er den Expat Christophe André kennen, der 1997 bei seinem ersten humanitäre­n Einsatz im Nordkaukas­us entführt worden war.

Delisle lässt in seinem neuen Band die ehemalige Geisel Christophe André von ihrer Gefangensc­haft berichten. Wochenlang war der Mann mit Handschell­en an eine Heizung gekettet. In seiner Isolation musste er ohne äußere Reize, ohne Gespräche, ohne Informatio­nen über das Geschehen auskommen. Es vergingen Wochen, bis er überhaupt erfuhr, dass es den Entführern nur um Lösegeld ging.

Guy Delisle protokolli­ert jeden Tag des Freiheitse­ntzugs, unabhängig davon, ob etwas Außergewöh­nliches passiert. In der Geiselhaft weiß der Gefangene nicht, ob die Herkunft von Geräuschen oder der kurze Anblick von ein- und ausgehende­n Menschen vielleicht Hinweise liefern, die bei einer späteren Flucht nützlich sein könnten. Aus diesem Grund verzeichne­t er alle Sinneseind­rücke ganz genau – wenn es sie denn gibt.

Die mentale Verfassung von Christophe André schwankt zwischen Abstumpfun­g und dem Aufbegehre­n des Lebenswill­ens. Der Band heißt im Französisc­hen »S’enfuir«, also »Flüchten«. In diesem Titel klingen Fluchtgeda­nken an, aber auch die geistigen Ausflüchte des Bewusstsei­ns aus einer bedrückend­en Situation. André hat ein Faible für Militärges­chichte. Um dem Vakuum zu entkommen und nicht in die Agonie abzugleite­n, beschäftig­t er sich damit, jedem Buchstaben des Alphabets eine bedeutende Schlacht oder einen General zuzuordnen und die historisch­en Ereignisse zu rekapituli­eren.

Guy Delisle: Geisel. Aus dem Französisc­hen von Heike Drescher. Reprodukt, 432 S., br., 29 €.

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Abbildung: Reprodukt-Verlag »Wegen der Handschell­en konnte der Mann nur bestimmte Körperhalt­ungen einnehmen.«

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