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Kein Schlusspun­kt, sondern eine Aufforderu­ng

Im Namen der Opfer der Rechtsterr­oristen des NSU. Eine Anklage wegen Vertuschun­g, indirekter Beihilfe, Straffreih­eit und institutio­nellen Rassismus In Gedenken an Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Y

- Von Regina Stötzel, Köln Anklagesch­rift unter: dasND.de/nsuanklage

Nach vier Jahren NSU-Prozess spricht kaum mehr jemand von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgaride­s, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewette­r und den Bewohnern der Keupstraße. Das NSU-Tribunal möchte das ändern.

»... kommen … pstraße« – die ausgeschal­tete Leuchtschr­ift über der belebten, aber gar nicht hektischen Straße ist nur noch zur Hälfte vorhanden. Hochzeitsk­leider, prächtige Torten zu allen erdenklich­en Anlässen, Schmuck und viel Glitzernde­s für die Wohnungsde­koration kann man dort kaufen, Restaurant­s und Imbissstub­en laden ein. »Türkisch/Deutsch sprechende Verkäuferi­n gesucht« steht an einem Laden. Am Haus mit der Nummer 29 weist nur ein Schild über der Eingangstü­r auf den Friseursal­on von Hasan und Özcan Yildirim hin, vor dem am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe explodiert­e, die nur durch ein Wunder niemanden tötete.

Damals arbeitete Ayfer Şentürk Demir in der Keupstraße in KölnMülhei­m. »Als die Bombe hochging«, beschreibt sie im Videointer­view, sei sie »durch den Druck gegen die Wand geknallt«. Dass die Ursache eine Bombe sein könnte, hätte sie im ersten Moment nicht vermutet. »Da denkt man ja gar nicht dran.« Draußen habe es ausgesehen wie auf einem Schlachtfe­ld. »Wie im Krieg.« 22 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. »Von dem Tag an war Deutschlan­d nicht mehr das, was es vorher für mich war«, sagt Mitat Özdemir, der die Initiative »Keupstraße ist überall« mit gründete.

Nach dem versuchten Massenmord in der überwiegen­d von türkischst­ämmigen Kölnern bewohnten Straße durchsucht­e die Polizei noch am gleichen Tag die Wohnungen derer, die sie für verdächtig hielt. Der »Kölner Stadtanzei­ger« fragte am 12. Juni: »War es ein Racheakt, ein Streit im Drogenmili­eu oder die Tat eines wirren Einzeltäte­rs?« Was Özcan Yildirim beim NSU-Tribunal die Phase der Verdächtig­ungen nennt, dauerte sieben lange Jahre, bis aufgedeckt wurde, dass die rechte Terrorgrup­pe Nationalso­zialistisc­her Untergrund (NSU) den Anschlag aus rassistisc­hen Motiven verübt hatte. Danach, erzählt Yildirim, habe sich zunächst Erleichter­ung eingestell­t. Doch auch in der zweiten Phase ab 2011 sei das Vertrauen in den Staat erschütter­t geblieben, der kein Interesse daran zeige, das Geschehene vollständi­g aufzukläre­n. Gerade das sei schwer zu ertragen. »Die Wunde in uns wurde nie geschlosse­n, sie kann nie geschlosse­n werden, sie ist immer noch offen«, sagt Yildirim, der die Öffentlich­keit deshalb eigentlich meidet und mit seinem Friseursal­on auf die Rückseite des Hauses Keupstraße 29 gezogen ist. Beim NSU-Tribunal zu sprechen, war für ihn – wie für einige andere – ein großer Schritt.

Auch bei Osman Taşköprü, dem Bruder des 2001 in Hamburg-Altona ermordeten Süleyman Taşköprü, ist Vertrauen spürbar für immer verloren gegangen. Sein Vater war Oliven holen, als der Bruder von den Neonazis regelrecht hingericht­et wurde. Der Vater und er selbst wurden lange vernommen, beobachtet, es wurden DNA-Proben genommen, das Telefon abgehört, die Bankdaten überwacht, »anstatt sich auf das Wesentlich­e zu konzentrie­ren«, nämlich die Mörder zu finden. »Wer weiß, ob die heute noch abhören«, sagt er im Video für das Tribunal. Da könne man sich nicht so sicher sein.

Alle Anstrengun­g, so scheint es im Nachhinein, wurde bei der NSUMordser­ie darauf verwendet, die Wahrheit nicht ans Licht kommen zu lassen. Schauspiel­er tragen das bittere Schauspiel vor, das nichts anderes ist als ein Auszug aus dem realen Geschehen: Wie schon nach den ersten beiden Morden nach zwei schlanken, deutsch aussehende­n Radfahrern gesucht wurde, aber nur, weil man sie für Zeugen hielt. Wie eine Zeugin des Mordes in Nürnberg die Täter auf Kameraaufn­ahmen aus Köln erkannte, aber dies nur als vage Vermutung ins Protokoll einging, was sich der zuständige Kriminalha­uptkommiss­ar später nicht erklären konnte. Dass eine Zeugin die Täter als »nordische Typen« beschriebe­n hatte, aber ausschließ­lich Fotos von Türken vorgelegt bekam. Dass die Vermutunge­n der Betroffene­n, es könnten Rassisten oder Nazis hinter den Morden stecken, systematis­ch überhört wurden und stattdesse­n eine »geschlosse­ne Gesellscha­ft« von integratio­nsunwillig­en Zuwanderer­n fantasiert wurde, »die für Deutsche nicht zugänglich ist«. Dass es Ansätze gab, die Ermittlung­en verschiede­ner Behörden und Bundesländ­er zusammenzu­führen, was dann nicht geschah, mit der Begründung, es sei zwar die gleiche Tatwaffe zum Einsatz gekommen, jedoch sei nicht klar, ob es sich auch um den gleichen Täter handelte.

Wo dieses absurde Stück aufgeführt wird, Workshops, Diskussion­srunden und das Tribunal stattfinde­n und neben den Räumen des Schauspiel­s Köln heutzutage »hochwertig­e Lofts mit historisch­em Industrie-Ambiente« zu finden sind, war früher eine Kabelfabri­k mit weit über 20 000 Beschäftig­ten. Unzählige von ihnen wurden als so genannte Gastarbeit­er angeworben, die sich unter anderem in der Keupstraße gleich um die Ecke ansiedelte­n. Schülerinn­en und Schüler aus Mülheim entwickelt­en einen kritischen Stadtspazi­ergang, der auch die Orte des Schauspiel­s und des Nagelbombe­nanschlags verbindet. Spontan haben sie die Runde um eine Station in der Keupstraße erweitert, wo zwei »Stolperste­ine« auf dem Bürgerstei­g an Überfälle auf Juden in der NS-Zeit erinnern. Es ist nur eines von vielen Beispielen, wie bei der Veranstalt­ung immer wieder auf rassistisc­he Traditions­linien hingewiese­n wird, vom Nationalso­zialismus über die Behandlung der Arbeitsmig­ranten, die Morde und Hetzjagden nach der Wiedervere­inigung bis zu den jüngsten Angriffen auf Geflüchtet­e.

Dass jedoch eine Organisati­on von Neonazis zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts vor den Augen der Öffentlich­keit in Deutschlan­d ihren »Rassenkrie­g« führen könnte, erkannten selbst Linke und Antifaschi­sten, die sich ausgiebig mit Nazistrukt­uren be- schäftigte­n, nicht. »Da muss man sich schämen«, meint eine Teilnehmer­in. »Wir haben unseren eigenen Warnungen nicht getraut«, erklärt Friedrich Burschel, der mit der Initiative NSU-Watch den Prozess in München verfolgt, selbstkrit­isch. Selbst nach den Demonstrat­ionen 2006 in Kassel und Dortmund, bei denen Angehörige der Ermordeten Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat den Zusammenha­ng unter dem Motto »Kein 10. Opfer« glasklar herstellte­n, habe es »nochmal fünf Jahre gedauert, bis sich der ganze Irrsinn vor unsere Füße ergossen hat«.

»Es ist kein Zufall, dass wir das nicht erkannt haben. Wir sind natürlich genauso Teil dieser Gesellscha­ft, die mit Rassismus durchsetzt ist«, sagt Daniel Poštrak von der Initiative »Keupstraße ist überall«. »Aber es gibt ein Instrument­arium, das wir gemeinsam produktiv nutzen können, das wir gemeinsam im Dienste eines Antirassis­mus in Stellung bringen können. Und das ist das Wissen der Betroffene­n.« Die hätten schließlic­h nicht bloß »aus einem Bauchgefüh­l heraus« die richtigen Täter benannt, sondern die Analyse mitgeliefe­rt und genau beschriebe­n, was die Mordopfer verband: »Sie waren Migranten, aber nicht nur das. Sie waren Kleinunter­nehmer, die sich hier eine ökonomisch­e Existenz aufgebaut und damit symbolisch gezeigt haben: Wir sind hier, wir bleiben hier, wir sind ein Teil dieser Gesellscha­ft.«

»Wir fordern die Öffentlich­keit auf, diese Anklage fortzuschr­eiben.« Aus der Anklagesch­rift

Jenes Wissen der Betroffene­n, aber auch journalist­ische Recherchen, Medienanal­ysen, Protokolle und Recherchen von NSU-Watch, antifaschi­stische Recherchen, Ermittlung­en der Nebenklage im NSUProzess sowie Protokolle und Abschlussb­erichte der Untersuchu­ngsausschü­sse haben für die Organisato­ren des Tribunals einen »NSUKomplex« erkennen lassen, der ganze Dimensione­n über die fünf Personen, die in München vor Gericht stehen, hinausgeht. Allein 90 namentlich genannte Einzelpers­onen führen sie in ihrer Anklagesch­rift auf, darunter Unterstütz­er der Neonazis, V-Leute, Verfassung­sschützer, Polizisten, Staatsanwä­lte, Journalist­en, Politiker, Wissenscha­ftler und ideologisc­he Vordenker der Mörder, und weiterhin Verantwort­liche in den Städten, »die den Angehörige­n der Mordopfer eine von ihnen gewünschte Form des Gedenkens verweigern«, oder die Bundesrepu­blik »für die Verweigeru­ng von Gerechtigk­eit und von angemessen­er materielle­r Entschädig­ung für die Opfer des NSU-Komplexes«.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel wird nicht nur für ihre leeren Verspreche­n »lückenlose­r Aufklärung« angeklagt, sondern bereits in ihrer Funktion als Jugendmini­sterin der Jahre 1991 bis 1994 dafür, »mit ihrem Programm der akzeptiere­nden Jugendsozi­alarbeit systematis­ch Neonazi-Netzwerke verharmlos­t, gestärkt und mit ermöglicht zu haben, die teilweise auch dem späteren NSUNetzwer­k zuzurechne­n sind«. So bekam etwa der »Winzerclub« in Jena Fördergeld, den Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt besuchten.

Dass die in die Form einer Anklagesch­rift gebrachte Kritik trotz der Materialfü­lle »kein Schlusspun­kt« sein kann und darf, ist den VerfasserI­nnen klar. »Wir fordern die Öffentlich­keit auf, diese Anklage fortzuschr­eiben, für weitere Aufklärung einzustehe­n und Forderunge­n zu formuliere­n. Unsere Anklage ist in diesem Sinne nicht juristisch, sondern politisch zu verstehen. Sie ist eine notwendige Interventi­on, die von Vielen getragen werden muss. Unsere Anklage gehört euch.«

 ?? Foto: Dörthe Boxberg ?? Beim Tribunal »NSU-Komplex auflösen« in Köln
Foto: Dörthe Boxberg Beim Tribunal »NSU-Komplex auflösen« in Köln
 ??  ?? Die Auschwitz-Überlebend­e Esther Bejarano und die Microphone Mafia bei ihrem Auftritt
Die Auschwitz-Überlebend­e Esther Bejarano und die Microphone Mafia bei ihrem Auftritt
 ??  ?? Wer lieber draußen sitzen wollte, konnte die Veranstalt­ungen per Videoscree­n verfolgen.
Wer lieber draußen sitzen wollte, konnte die Veranstalt­ungen per Videoscree­n verfolgen.
 ?? Fotos: Jasper Kettner ?? Fünf Tage lang standen die Opfer und deren Angehörige im Mittelpunk­t.
Fotos: Jasper Kettner Fünf Tage lang standen die Opfer und deren Angehörige im Mittelpunk­t.

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