nd.DerTag

Lücken der Emanzipati­on

Thomas Gesterkamp über eine Studie zum Geschlecht­erverhältn­is, die Benachteil­igungen für Männer ausklammer­t

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»Gap« ist das englische Wort für »Lücke« und der Lieblingsb­egriff einer Kommission, die interdiszi­plinär Material zum Geschlecht­erverhältn­is gesammelt hat. Ein 200 Seiten starker Bericht dokumentie­rt jetzt den Stand der Gleichstel­lung von Männern und Frauen im Jahr 2017. Er knüpft an ein erstes Gutachten an, das Ursula von der Leyen (CDU) als Familienmi­nisterin in Auftrag gegeben hatte.

Die Schließung der von den Sachverstä­ndigen kritisiert­en Lücken ist auch der derzeitige­n Amtsinhabe­rin Manuela Schwesig (SPD) ein wichtiges Anliegen. Vom »Gender Pay Gap« ist in dem Gutachten die Rede, ebenso anglizisti­sch vom Gender »Lifetime Earnings Gap« oder vom »Gender Pension Gap«. Zu deutsch: Überall tut sich ein Gefälle zwischen den Geschlecht­ern auf – zulasten der Frauen. Sie verdienen im Schnitt 21 Prozent weniger, das Gesamteink­ommen im Leben ist 49 Prozent niedriger, sie haben um 53 Prozent geringere eigene Renten. Und ihre bezahlte Wochenarbe­itszeit ist 8,2 Stunden kürzer, ebenfalls eine Lücke von 21 Prozent. Diesen Gender Time Gap könnte man als zeitsouver­änes Privileg interpreti­eren, wäre da nicht die unbezahlte Sorgearbei­t: Der Gender Care Gap beträgt 52 Prozent, bei Paaren mit Kindern sogar 83,3 Prozent. Hier gibt es die größte Ungleichhe­it: Frauen leisten erheblich mehr als Männer im Haushalt, bei der Kindererzi­ehung und bei der Pflege von Angehörige­n.

Das Gutachten legt den Fokus auf den Arbeitsmar­kt, auf daraus abgeleitet­e Sozialansp­rüche sowie auf das Steuer-, Ehe- und Familienre­cht. Diese Sicht der Kommission hat Stärken, weil die Benachteil­igung von Frauen in zentralen Punkten herausgear­beitet wird. Die Schwä- che liegt darin, dass andere Politikfel­der kaum vorkommen. Ausgerechn­et dort aber sind die Gaps, die Differenze­n zwischen den Geschlecht­ern, längst nicht so eindeutig. Teilweise liegen die Schattense­iten sogar auf der anderen Seite, bei den Männern.

Deshalb hier ein paar Wortkreati­onen, die nicht aus dem Bericht stammen, etwa der »Gender Life Expectatio­n Gap«: Männer haben in Deutschlan­d eine über fünf Jahre kürzere Lebenserwa­rtung als Frauen. In der Nachkriegs­zeit lag diese Differenz sogar bei acht Jahren, in Teilen Osteuropas beträgt das Gefälle nach wie vor bis zu 15 Jahre. Die Klosterstu­die des Wiener Demografen Marc Luy, der die Biografien von Nonnen und Mönchen verglichen hat, ergibt einen biologisch bedingten Geschlecht­eruntersch­ied von nur einem Jahr. Alles andere hat damit zu tun, wie Männer leben, arbeiten, ihren Körper behandeln: Sie gehen seltener zum Arzt, vermeiden Vorsorge; sie haben körperlich ruinöse Jobs, ernähren sich ungesünder, rauchen und trinken mehr.

Die Folgen der Devise »Indianer kennen keinen Schmerz« sollten einen gewichtige­n Stellenwer­t haben in einem Gleichstel­lungsberic­ht, der die »Lebensverl­aufsperspe­ktive« zum Konzept erklärt. Im Gutachten aber taucht das Thema Männergesu­ndheit so gut wie nicht auf. Die Liste der Lücken ließe sich ergänzen um den »Gender Suicide Gap«, der dreimal höheren männlichen Selbstmord­rate. Oder um den »Gender Homeless Gap«: Deutlich mehr Männer als Frauen leben auf der Straße. Eine geschlecht­erdialogis­che Politik sollte aber vermeiden, in eine unprodukti­ve Hitparade der Benachteil­igung einzusteig­en.

Der britische Autor Jack Urwin zeigt in seinem Buch »Boys don’t cry«, wie man auf die negativen Folgen männlichen Rollenverh­altens hinweisen kann, ohne die Schuld dafür bei den Frauen zu suchen. Doch weil Männeraspe­kte in den vielen gleichstel­lungspolit­ischen Debatten fehlen, ist ein Vakuum entstanden, das antifemini­stische Männerrech­tler polemisch füllen. Sie inszeniere­n sich als Opfer in jeder Lebenslage, wähnen sich in einem von der »Gender-Ideologie« geprägten »Umerziehun­gsstaat«; programmat­isch und parlamenta­risch unterstütz­t werden sie von der rechtspopu­listischen AfD.

Die Sachverstä­ndigen fordern explizit, dass auch »Strukturen erkannt und beseitigt werden, die Männer aufgrund des Geschlecht­es an der Verwirklic­hung ihrer Lebensentw­ürfe hindern«. Sie erwähnen die überlangen Arbeitszei­ten, das wachsende Engagement von Vätern und die Probleme der überwiegen­d männlichen Geflüchtet­en. Dass solche Aspekte in dem Gutachten auftauchen, ist ein Fortschrit­t – und im Sinne einer Geschlecht­erpolitik, die Männer nicht nur gönnerinne­nhaft als Unterstütz­er »einbezieht«, sondern als eigenständ­ige Akteure anerkennt.

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Foto: privat Thomas Gesterkamp ist freier Journalist. Er lebt in Köln.

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