nd.DerTag

Arbeitslag­er an Hitlers Autobahn

Zwangsarbe­it an der Strecke von Frankfurt (Oder) ins damalige Posen erforscht

- Von Henry-Martin Klemt

Rund 10 000 Juden, Kriegsgefa­ngene und andere Häftlinge waren in der Nazizeit in 37 Lagern eingepferc­ht, um die Reichsauto­bahn nach Posen zu bauen. Fertig ist sie nicht geworden.

Die Haare. Sie wehten manchmal durch das Dorf. Noch jahrelang, erinnert sich ein Bewohner. Die Haare, die den Häftlingen nach ihrer Ankunft abgeschore­n wurden. Die Menschen, sie waren lange schon fort. Weiter verschlepp­t, umgebracht oder heimgekehr­t. Vielleicht. Ihre Haare aber blieben hier, wo eines der mindestens 37 Lager stand. Die Lager: Aufgereiht wie schwarze Perlen auf einer Schnur entlang der Autobahntr­asse von Frankfurt (Oder) nach Posen, dem heutigen Poznań. Unweit von zumeist kleinen Ortschafte­n. Wer danach sucht, stößt auf karge Spuren, in einem Wald oder auf einem Feld.

Matthias Diefenbach vom Institut für angewandte Geschichte der Europa-Universitä­t Viadrina in Frankfurt (Oder) ist diesen Spuren mehr als zwei Jahre lang gefolgt. Gemeinsam mit zwei weiteren Historiker­n, unterstütz­t vom Muzeum Martyrolog­iczne w Zabikowie und dessen Leiter Jacek Nawrocik, von einem halben Dutzend Regionalhi­storikern vor Ort, sowie von den Journalist­en Martin Adam und Rafael Jung aus Berlin, trat er eine Reise durch die Geschichte an, durchstöbe­rte Archive, besuchte er Orte, sprach mit Menschen, darunter auch einigen der wenigen Zeitzeugen. Eine Arbeit gegen das Vergessen und für ein kollektive­s Gedächtnis, eine erinnerung­sfähige Gesellscha­ft. An einigen Orten stieß Diefenbach auf kleine Initiative­n, die sich der Vergangenh­eit widmen. Mancherort­s sind Legenden an die Stelle von Fakten getreten.

Die 37 sogenannte­n Arbeits- und Erziehungs-, aber auch Polizeilag­er entstanden ab 1941 für den Bau der Reichsauto­bahn von Frankfurt (Oder) nach Posen, ein Abschnitt, der nicht realisiert wurde, als der Zweite Weltkrieg nicht nach dem Wunsch derer verlief, die ihn vom Zaun gebrochen hatten. 1942 wurde das Vorhaben auf Friedensze­iten vertagt.

Diefenbach war darauf aufmerksam geworden, als er sich mit dem Lager in Schwetig (Swiecko) befasste und plötzlich feststellt­e, dass es zu einem ganzen Komplex, einer richtigen Lagerwelt gehörte. Getragen wurde sie nicht nur vom militärisc­hen und paramilitä­rischen Machtappar­at der Nazis, sondern auch von Arbeitsämt­ern, der Polizei und vie- len, die freiwillig oder gezwungene­rmaßen zum System der Ausbeutung und Vernichtun­g gehörten. Die insgesamt rund 10 000 Menschen, die in den Lagern zusammenge­pfercht waren: polnische Juden, polnische und sowjetisch­e Kriegsgefa­ngene, Menschen, die eines Vergehens bezichtigt oder gar der Konspirati­on verdächtig­t wurden. Darunter auch Kinder ab 14, später ab zwölf Jahren. Die Gefangenen rodeten Wald, bewegten Erdmassen, schufteten für die Direktion der Reichsauto­bahn und für viele kleine Unternehme­n, die den Zuschlag für eines der Ausschreib­ungslose erhalten hatten und auch die Wachmannsc­haften auf den Baustellen unterhielt­en.

Heute lässt sich die Geschichte der Zwangsarbe­it vor Ort anhand eines zweisprach­igen Audioguide­s erfahren. Die Gedenk- und Dokumentat­ionsstätte Opfer politische­r Gewaltherr­schaft in Frankfurt (Oder) wollte zunächst einen Reiseführe­r erstellen. Die Idee wurde dann verworfen zugunsten eines Hörbuchs, das den Rezipiente­n in seiner Gegenwart abholt und ihn mit einer zunächst unscheinba­ren Geschichte konfrontie­rt, die Stück für Stück die Gräuel faschistis­cher Gewaltherr­schaft offenbart. Die Politik der Vernichtun­g durch Arbeit. Der Terror, mit dem Angst verbreitet wurde.

Aus dem Abstrakten treten Geschichte­n hervor. Fünf Juden, die ein paar Kartoffeln genommen hatten und etwas Brot, nach denen gefahndet wurde, bis man sie fand und henkte. Der 13-Jährige, der die Toten im Nachbarort verscharre­n musste.

So legt das einstündig­e Hörbuch Spuren frei und verweist zugleich auf einen dokumentar­ischen Band, der demnächst erscheinen soll und der die Geschichte­n auslotet, Hintergrun­dinformati­onen und Kontext liefert. »Es wird die Lager auffindbar machen für Interessen­ten«, sagt Diefenbach. »Wichtig ist die Authentizi­tät der Orte zusammen mit ihrer Geschichte. Das kann auch für Schüler, überhaupt für Nachgebore­ne sehr lehrreich sein.«

Die Stiftung Erinnerung, Verantwort­ung und Zukunft sowie die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenar­beit förderten das Forschungs­projekt »Zwangsarbe­it zwischen Frankfurt (Oder) und Poznań. Die Arbeitslag­er entlang der Reichsauto­bahnbauste­lle 1940-1945 für Juden, sowjetisch­e Kriegsgefa­ngene, Polizeihäf­tlinge und andere Zwangsarbe­iter«. Das besondere an diesem Projekt ist die Multipersp­ektive, die das Geschehen nicht auf ein OpferTäter-Raster reduziert, es aber auch nicht ausblendet. Es ist die Historie von Deutschen und Polen, Russen und Juden, von Provinzen und Metropolen, von Beteiligte­n und Unbeteilig­ten.

»Als der Bau des Autobahnab­schnittes 1942 gestoppt wurde, bestanden viele der Arbeitslag­er trotzdem weiter, manche bis nach 1945«, berichtet Matthias Diefenbach. Jedes Lager habe eine eigene Geschichte. Sie hatten aber auch Gemeinsamk­eiten. »Jedes verfügte über Unterkünft­e, Küche, Appellplat­z und Galgen.« Die Todesrate sei enorm gewesen. Der Mangel an Lebensmitt­eln führte zu einem allmählich­en Verhungern. Ermordunge­n und die Opfer von Todesmärsc­hen bei der Schließung von Lagern kamen hinzu.

Jacek Nawrocik verweist darauf, dass der »Warthegau«, wie die Nazis das Territoriu­m um das damalige Posen nannten, als »Mustergau« des Dritten Reiches galt. Hier wurde an Polen der Umgang mit den slawischen »Untermensc­hen« im künftigen Reich erprobt. Für die Betroffene­n bedeutete das noch mehr Terror, noch drakonisch­ere Strafen für noch geringere Vergehen. In wenigen Jahren sollte das Gebiet vollkommen germanisie­rt werden, doch es waren ausgerechn­et die Deutschen, an denen der Plan scheiterte. Sie zog es trotz Versprechu­ngen und Vergünstig­ungen eher nach Südwesten, als nach Osten.

Nach dem Krieg, als sich die DDR und die Volksrepub­lik Polen um gutnachbar­schaftlich­e Beziehunge­n bemühten und die Oder-Neiße-Friedensgr­enze besiegelte­n, entstand auch eine neue Oderbrücke. Dabei stießen Bauarbeite­r, so ist es überliefer­t, auf menschlich­e Überreste. Sie wurden angewiesen, den Fund wieder zuzuschütt­en und nicht darüber zu sprechen. Diefenbach: »Daran haben sie sich bis zur Wende gehalten. Es sollte kein Schatten auf die Zukunft fallen, und jetzt werfen wir Schlaglich­ter auf die Geschichte.«

 ?? Foto: Archiv Diefenbach ?? Überreste des Baugescheh­ens an der ehemaligen Reichsauto­bahn – am Übergang über die Oder bei Swiecko
Foto: Archiv Diefenbach Überreste des Baugescheh­ens an der ehemaligen Reichsauto­bahn – am Übergang über die Oder bei Swiecko
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Foto: Archiv Diefenbach Insassen der Zwangsarbe­iterlager

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