nd.DerTag

Raus aus den Kirchenmau­ern!

Johann Hinrich Claussen und Martin H. Jung bieten Luther im Original und Orientieru­ng

- Von Sabine Neubert

Reformator oder Ketzer, Rebell oder Fürstenkne­cht, Heiliger oder Revolution­är, der Fremde oder der Zeitgenoss­e, Urvater biedermeie­rlicher deutscher Familienid­ylle oder europäisch­er Visionär? Martin Luther – Legende, Denkmal, Monument, vereinnahm­t und geschmäht. Luthers Bild »schwankt in der Geschichte«.

Egon Friedells individual­istischgei­stesgeschi­chtliche Betrachtun­g prägte lange das bildungsbü­rgerliche Lutherbild (etwa das Thomas Manns). Die Theologen, mit Bevorzugun­g des »jungen Luther« (Heinrich Böhmer), zogen sich hinter ihre Schreibtis­che und Kirchenmau­ern zurück. Die marxistisc­hen Historiker machten, Karl Marx folgend, für das Scheitern des Bauernkrie­ges, der sogenannte­n »Frühbürger­lichen Revolution«, die Theologie bzw. Luther verantwort­lich. In diesem Zusammenha­ng ist es fast unabdingba­r, Werner Tübkes Bauernkrie­gspanorama in Bad Frankenhau­sen von 1989 zu erwähnen, eines der größten und aufregends­ten Tafelbilde­r der Welt. Als Revolution­sikone zehn Jahre zuvor in Auftrag gegeben, gibt es mit seiner überborden­den Fakten- und Personenfü­lle apokalypti­schem und reformator­ischem Ereignisch­arakter breiten Raum.

Trotzdem: Martin Luther war lange ein Verborgene­r. Mit dem Reformatio­nsjubiläum tritt er vehement in die Öffentlich­keit. Biografen, Romanschre­iber und Künstler arbeiten sich an der »Marke Luther« ab. Luther-Spiele, Luther-Comics beleben das Geschäft. Wie soll man sich da noch zurechtfin­den?

Wertvolle Orientieru­ng ermöglicht das schmale, aber sehr informativ­e Bändchen »Reformatio­n. Die wichtigste­n 95 Fragen« von Johann Hinrich Claussen. Mit seiner immensen Bandbreite, seiner Fülle an Fakten, Daten, historisch­en und geografisc­hen Bezügen ist es weit mehr als eine Einführung und ganz besonders Ethik-, Religions- und Geschichts­lehrern (und deren Schülerinn­en und Schülern) zu empfehlen. Auf der Grundlage fundierter Kenntnisse stellt der Kulturbeau­ftragte der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d Leben, Werk und Wirkung Luthers im Zusammenha­ng historisch­er Ereignisse und Bewegungen dar und zieht die geistesges­chichtlich­en Linien bis in die Gegenwart. Heute, 500 Jahre nach dem Beginn der Reformatio­n, fragt Claussen, ob Aufklärung, Er- klärung der Menschenre­chte, Demokratie oder Kapitalism­us deren Folgen waren oder ob Luther doch nur ein religiöser Eiferer gewesen ist. Dass er sein Buch in »95 Fragen« unterteilt, dient nicht nur der Überschaub­arkeit, sondern ist selbstvers­tändlich – ein bisschen augenzwink­ernd – dem Thesenansc­hlag am 31. Oktober 1517 geschuldet. Denn darin sind sich heute die Historiker einig: Dieses Ereignis ist das auslösende Moment der Reformatio­nsbewegung gewesen, auch wenn der Augustiner­mönch und Doktor der Theologie Martin Luther seine Thesen nicht mit dem Vorschlagh­ammer an die Wittenberg­er Schlosskir­chentür gehauen hat. Die wäre dabei zersplitte­rt, denn sie war damals noch aus Holz und ist erst im 19. Jahrhunder­t durch eine Bronzetür ersetzt worden.

Was hat Martin Luther geschriebe­n? Was war da zu lesen und zu diskutiere­n? Was versetzte bald die Deutschen bzw. das ganze Kaiserreic­h in Aufruhr? Außer Theologen und Historiker­n sind die Schriften im Wortlaut Wenigen bekannt, allenfalls der »Kleine Katechismu­s«. Man muss nicht die dreibändig­e, jetzt im Buchhandel erhältlich­e Ausgabe erwerben, um das Wichtigste zu finden. Das Buch »Luther lesen« mit den zentralen Schriften ermöglicht Einblicke. Martin H. Jung (Professor in Osnabrück) hat die Texte in eine moderne, verständli­che Sprache übertragen und mit kurzen Einführung­en versehen. Hier seien hervorgeho­ben: die gesamten 95 (ursprüngli­ch lateinisch abgefasste­n) Thesen gegen den Ablasshand­el, der Aufruf »An den christlich­en Adel deutscher Nation«, kurz »Adelsschri­ft« genannt, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet­e, und die noch heute meistgeles­ene »Freiheitss­chrift«, beide von 1520. Durch die letztere mit ihrer dialektisc­hen Formulieru­ng von der »Freiheit« und »Dienstbark­eit« des Christenme­nschen geriet Luther erstmals in Konflikt mit Erasmus von Rotterdam.

Das Buch von Jung enthält weiterhin Luthers Aufruf »Wider die räuberisch­en und mörderisch­en Horden der Bauern« von 1525, die in der Auf- forderung an die Fürsten und Herren mündete, »zu stechen, zu schlagen, zu töten«, zudem die beiden konträren »Judenschri­ften« von 1523 und 1543. Außer diesen beschämend­en Aufrufen ist aber auch erstaunlic­h Aktuelles zu entdecken: 1524 schrieb Luther über »Kaufhandlu­ng und Wucher«, womit er seiner Kritik an Handel und Großkapita­l (Fugger) deutliche Worte verlieh: »Von den Handelsges­ellschafte­n könnte ich wohl viel sagen, aber es ist alles so grundund bodenlos voller Geiz und Unrecht, dass nichts darin zu finden ist, was mit gutem Gewissen behandelt werden könnte ... Denn wer ist so einfältig, dass er nicht sieht, dass die Gesellscha­ften nichts anderes sind als bloße Monopole? ... Wie könnte das je gütlich und recht zugehen, dass ein Mann in kurzer Zeit so reich wird, dass er Könige und Kaiser auskaufen könnte?« Dem ist kaum etwas hinzuzufüg­en. In unserem Zeitalter der schnellen Informatio­nen aus zweiter Hand kann das Studieren von Quellen wie den fast 500 Jahre alten Luther-Texten nützlich und überrasche­nd sein.

Seit dem Entstehen der Ökumenisch­en Bewegung und dem Zweiten Vatikanisc­hen Konzil haben die einst sich bekämpfend­en konfession­ellen Kontrahent­en zu einer Gesprächsk­ultur der Achtung und Würdigung des anderen gefunden, wie die kleine Luther-Schrift von Walter Kardinal Kasper deutlich macht. Er wagt die These, dass »die Fremdheit der Welt, in der Luther lebte«, und seine Botschaft von »ökumenisch­er Aktualität« sind. Luthers »Fremdheit« stellt er den wesentlich provokante­ren Freiheitsb­egriff des Erasmus von Rotterdam entgegen, was nur auf den ersten Blick erstaunt; der Humanist hatte sich in Kleinliche­s nicht eingemisch­t und war der Alten Kirche treu geblieben. Theologen, Humanisten, Naturwisse­nschaftler setzten danach den Streit um die wahre Religion bzw. um die Wahrheit fort. Unter ihnen mit am prägnantes­ten Gotthold Ephraim Lessing, dessen Geist man sich auf dem Kirchentag wünscht.

Freiheit und Dienstbark­eit eines Christenme­nschen – wie geht das zusammen?

Johann Hinrich Claussen: Reformatio­n. Die 95 wichtigste­n Fragen. Verlag C. H. Beck. 176 S., brosch., 10,95 €. Martin H. Jung (Hg.): Luther lesen. Die zentralen Texte. Hrsg. vom Amt der Vereinigte­n Evangelisc­h-Lutherisch­en Kirche Deutschlan­ds. Verlag Vandenhoec­k & Ruprecht. 215 S., geb., 13 €. Walter Kardinal Kasper: Martin Luther. Eine ökumenisch­e Perspektiv­e. PatmosVerl­ag. 96 S., geb., 8 €.

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Foto: photocase/Johny Schorle Ein Rastplatz der besonderen Art: Luthers Kopf

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