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Selbstverb­rennungen als Märtyrertu­m?

Sabine Stach und Karsten Krampitz untersucht­en Motive und Instrument­alisierung­en von Oskar Brüsewitz und Jan Palach

- Von Karl-Heinz Gräfe

Feuersuizi­de, ursprüngli­ch ein kulturelle­s Ritual in der asiatische­n Welt, im Hinduismus und Buddhismus, erfassten im 20. Jahrhunder­t auch Europa und Afrika. Die als ein politische­s Zeichen gegen den Vietnamkri­eg gedachte Selbstverb­rennung des Mönches Thich Quang Duc 1963 in Saigon fand rasch Nachahmer auch in den USA – ein Protest gegen die Washington­er Administra­tion und das Pentagon.

Um gegen die Militärint­ervention der Warschauer Vertragsst­aaten zur Niederschl­agung der Reformpoli­tik des »Prager Frühlings« zu protestier­en, kam es im osteuropäi­schen Einflussbe­reich der UdSSR in den Jahren 1968/69 zu sechs politisch motivierte­n Selbstverb­rennungen, davon vier in der CSSR. In den nachfolgen­den zwei Jahrzehnte­n waren es noch einmal so viele. Obwohl diese nur einen verschwind­end kleinen Teil des weltweiten Phänomens ausmachten, wurden diese in der Öffentlich­keit stärker wahrgenomm­en. Westliche Ideologen suggeriert­en, Feuersuizi­de seien eine typische Widerstand­sform gegen den Staatssozi­alismus.

Im Zentrum des Vermächtni­sdiskurses stehen die Selbstverb­rennun- gen des 1948 geborenen Jan Palach auf dem Prager Wenzelspla­tz am 16. Januar 1969 und des ostdeutsch­en Pfarrers Oskar Brüsewitz, Jahrgang 1929, am 18. August 1976 in Zeitz. Beide erlagen wenige Tage später ihren Verletzung­en. Sabine Stach widmet sich beiden, ihren Motiven sowie ihrer politische­r Instrument­alisierung. Sachkundig und sachlich untersucht sie die macht- und interessen­geleitete Vermächtni­spolitik beider sehr verschiede­n politisch motivierte­n Selbstmord­e als transnatio- nale Projektion­sflächen während und nach dem Ost-West-Konflikt bis in unsere Tage. Beide spektakulä­ren Selbstmord­e dienten im Westen der Skandalisi­erung, Diskrimini­erung und Kriminalis­ierung des osteuropäi­schen Staatssozi­alismus. Palachs gewaltsame­r Tod wurde selbst in der »Samtenen Revolution« 1989 in der Tschechosl­owakei ausgeschla­chtet und Jahre später missbrauch­t zur Erlangung des Beitritts in die NATO und in die EU. Der marxistisc­he Philosoph Karel Kosík kritisiert­e 1994 die Umwertung Palachs zum »Schutzheil­igen, der sich für Ruhm und Aufschwung des Kapitalism­us geopfert« habe. Als sich 2010 der tunesische Gemüsehänd­ler Mohamed Bouazizi selbst verbrannte und damit den kurzen »Arabischen Frühling« auslöste, fand er Nachahmer nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch im fernen China.

Mit dem ostdeutsch­en Pendant von Palach befasste sich ausgiebig Karsten Krampitz. Er hat seine an der Humboldt-Universitä­t verteidigt­e Dissertati­on zu einer voluminöse­n Biografie ausgebaut. Er wertete nicht nur die sehr umfangreic­he Erinnerung­sliteratur zu Brüsewitz aus, sondern auch die entspreche­nden Akten aus einem Dutzend staatliche­r, kirchliche­r und privater Archive und befragte zudem eine Reihe namhafter Zeitzeugen. Da ist viel Neues zu erfahren. Krampitz verfolgt den widersprüc­hlichen Weg, der Brüsewitz aus dem Memelgebie­t (heute Litauen) in den Raum Chemnitz und dann nach Westfalen führte. Nach berufliche­m Scheitern dort verließ er 1954 Frau und Kind, versuchte einen Neustart in der DDR, gründete eine zweite Familie und begann zehn Jahre später eine Predigerau­sbildung. 1969 übernahm er eine Pfarrstell­e in Rippicha im Kreis Zeitz. Der Autor stellt Brüsewitz in den historisch­en Kontext und beleuchtet das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR. Die acht ostdeutsch­en Kirchen waren 1969 aus der Evangelisc­hen Kirche Deutschlan­ds (EKD) ausgetrete­n und hatten sich zum Bund der Evangelisc­hen Kirchen (BEK) in der DDR vereinigt. Sie versuchten ihre Autonomie gegen staatliche Einflussna­hme zu verteidige­n. Brüsewitz wollte mit seinem Freitod gegen die Säkularisi­erung und den schwindend­en Einfluss der Kirchen protestier­en, so Krampitz, der zugleich der Meinung ist, dass nicht dessen Tat die DDR nachhaltig erschütter­te. Dafür hatte der im SEDZentral­organ »Neues Deutschlan­d« am 30. August 1967 abgedruckt­e diffamiere­nde Leitartike­l »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden« gesorgt. Er löste in weiten Teilen der Bevölkerun­g, bei Christen und Atheisten, heftige Proteste aus und veränderte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche.

Sabine Stach: Vermächtni­spolitik. Jan Palach und Oskar Brüsewitz als politische Märtyrer. Wallstein-Verlag. 511 S., geb., 42 €.

Karsten Krampitz: Der Fall Brüsewitz. Staat und Kirche in der DDR, Verbrecher- Verlag. 680 S., br., 29 €.

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Foto: imago/epd Brüsewitz-Stele vor der Michaelisk­irche in Zeitz

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