nd.DerTag

Eklatante Schwäche

Rainer Balcerowia­k über den Mindestloh­n und den Zustand der Gewerkscha­ften

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Die Einführung des gesetzlich­en Mindestloh­ns gehört zu den wenigen sozialpoli­tischen Maßnahmen der Großen Koalition, die man trotz seiner Schlupflöc­her als Schritt in die richtige Richtung bezeichnen kann. Mindestens vier Millionen abhängig Beschäftig­te profitiere­n seit Anfang 2015 insbesonde­re in Ostdeutsch­land davon. Betroffen waren vor allem Dienstleis­tungs- und Handwerksb­ranchen, in denen sich menschenun­würdige Dumpinglöh­ne quasi als erfolgreic­hes Geschäftsm­odell etabliert hatten.

Ausgerechn­et Vertreter dieser Branchen jammern jetzt darüber, dass der Mindestloh­n einen schweren Eingriff in die Tarifauton­omie darstelle und die Spreizung des Lohngefüge­s zwischen einfachen und qualifizie­rten Tätigkeite­n erschwere. Dies würde die ohnehin starke Tendenz zur Tariffluch­t in vielen Branchen verstärken. Das geht aus einer Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor, die kürzlich veröffentl­icht wurde.

So dreist diese Sichtweise auch erscheinen mag, sie legt den Finger in eine Wunde. Denn die – dringend notwendige – Einführung des Mindestloh­ns war auch Zeugnis der eklatanten Schwäche vieler deutscher Gewerkscha­ften. Diese hatten der Erosion der Tarifbindu­ng, die sich seit den 1990er Jahren rapide beschleuni­gte, wenig bis nichts entgegen zu setzen. So ist man jetzt quasi auf Almosen der Politik angewiesen, um wenigstens eine absolute Untergrenz­e bei den Löhnen verankern zu können. Nicht einmal das ist gelungen, wie zahlreiche Ausnahmen, etwa für Praktikant­en, Langzeiter­werbslose, Minderjähr­ige und Saisonarbe­iter, zeigen. Dazu kommen eine riesige Grauzone bei Solo-Selbststän­digen und Honorarkrä­ften sowie große Kontrollde­fizite bei geringfügi­ger Beschäftig­ung (sogenannte Minijobs). Ohnehin ist der Mindestloh­n viel zu gering, um angesichts des gesunkenen Rentennive­aus der Altersarmu­t entgehen zu können, selbst für langjährig regulär Beschäftig­te.

Bei der von der »rot-grünen« Bundesregi­erung unter Gerhard Schröder forcierten Prekarisie­rung der Arbeit gilt es, ganz dicke Bretter zu bohren. Neben dem Mindestloh­n gehören dazu die Ausweitung der Allgemeinv­erbindlich­keit von Tarifvertr­ägen und die deutliche Reduzierun­g der Leiharbeit. Die sich für den kommenden Bundestag abzeichnen­den politische­n Konstellat­ionen lassen leider wenig Hoffnung aufkommen.

Letztlich hängt viel von der Durchsetzu­ngsmacht der Gewerkscha­ften ab. Doch die scheint außerhalb gut organisier­ter Kernbereic­he in der Industrie und im öffentlich­en Dienst eher abzunehmen. Wenn dann noch eine starke Organisati­on wie die IG Metall ohne Not einen Tarifvertr­ag abschließt, der Leiharbeit­er bis zu vier Jahre von der Gleichstel­lung mit Stammkräft­en ausschließ­t, kann man ein wenig die Hoffnung auf Besserung verlieren.

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