Alte Bestmarken vor der Löschung
Europas Leichtathletikverband will dopingverdächtige Welt- und Europarekorde streichen
Die geplante Rekordreform hat die Leichtathletikwelt in Aufruhr versetzt und teilweise Kritik hervorgerufen. Vor allem direkt betroffene Athleten fühlen sich mit Dopingsündern in einen Topf geworfen.
Seit der Council-Sitzung des Europäischen Leichtathletikverbandes EAA Anfang Mai in Paris herrscht Unruhe, denn die EAA will dopingverdächtige Rekorde löschen. Damit folgt der Verband den Empfehlungen eines Projektteams für die Umsetzung neuer Regeln zur Rekordanerkennung, die zur Umbenennung zahlreicher Welt- und Europarekorde führen würden. Die Empfehlungen werden noch auf ihre juristische Durchsetzbarkeit geprüft und sollen dem Weltverband IAAF im August zur Beschlussfassung vorgelegt werden.
Solche und ähnliche Vorstöße sind nicht neu. Und sie werden immer wieder vor dem Hintergrund vermeintlich fragwürdiger Weltrekorde aus der »Steinzeit« betrieben, zu denen die 400-Meter-Zeit der Rostockerin Marita Koch von 47,60 Sekunden aus dem Jahr 1985 oder die 800-Meter-Zeit der Tschechin Jarmila Kratochvilova mit 1:53,28 Minuten aus dem Jahr 1983 gehören. Den ältesten Weltrekord hält bei den Männern der Ex-Schweriner Diskuswurf-Olympiasieger und heutige Bundestrainer Jürgen Schult mit 74,08 Metern vom 6. Juni 1986.
Auch andere Uralt-Rekorde werden infrage gestellt: Bei den Frauen ist der 100-Meter-Weltrekord von 10,49 Sekunden seit 1988 unerreichbar, aufgestellt von der US-Amerikanerin Florence Griffith-Joyner, die zehn Jahre später nach einem epileptischen Anfall erstickte.
»Was wir vorschlagen, ist revolutionär. Nicht nur, weil die meisten Europa- und Weltrekorde erneuert werden müssen«, sagte EAA-Präsident Svein Arne Hansen (Norwegen) nach der dreitägigen Council-Sitzung in Paris, »sondern weil wir das Konzept eines Rekordes ändern und die Standards für die Anerkennung erhöhen wollen.«
Vorausgegangen ist dem jetzt angestrebten Vorhaben, dass ein siebenköpfiges Gremium unter Vorsitz des Iren Pierce O’Callaghan die Glaubwürdigkeit dopingverdächtiger Bestmarken untersucht hatte. Das Projektteam, dem auch Clemens Prokop als Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) angehört, empfahl neben erhöhten technischen Standards und Dopingkontrollmaßnahmen auch, dass Athleten nach Anerkennung eines Rekordes verpflichtet sind, ihre sportliche Integrität aufrechtzuerhalten. Im Falle einer Sanktionierung aufgrund eines schwerwiegenden Regelverstoßes – zum Beispiel wegen eines späteren Dopingvergehens – soll die Anerkennung der Rekorde entzogen werden, selbst wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass der Regelverstoß die Rekordleistung beeinflusst hat. Diese Passage ist aber rechtlich höchst umstritten.
Prokop präzisierte das EAA-Vorhaben so: »Es geht nicht darum, dass man jeden Rekord einzeln prüft, sondern dass ein Strich drunter gezogen wird und man neu anfängt.« Schließlich hätten »früher Bedingungen im Kampf gegen Doping geherrscht, die mit heute nicht mehr vergleichbar« seien. Von daher sei eine Vergleichbarkeit der Leistungen ohnehin nicht gegeben.
Eine Bedingung zur künftigen Rekordanerkennung soll nach den EAAPlänen eine Mindestzahl von Dopingkontrollen im Zeitraum von zwölf Monaten vor dem Rekord sein. Außerdem sollen die Dopingproben zehn Jahre lang aufgehoben werden.
Um diese Pläne auf die Weltrekorde und damit auf die IAAF zu übertragen, müssten aber alle Kontinentalverbände weltweit zustimmen, was kaum zu erwarten ist. So hat der australische Verband bereits angedeutet, einem solchen Beschluss nicht zuzustimmen. Schon vor Jahren war ein ähnlicher Antrag, den Deutschland und Norwegen forciert hatten, abgelehnt worden. Damals war angestrebt worden, ab 1. Januar 2000 neue Rekordlisten zu führen. Dafür hatte es aber in der IAAF keine Mehrheit gegeben. »Es wird Athleten geben, aktuelle Rekordhalter, die das Gefühl haben werden, dass die Geschichte, die wir neu kalibrieren, etwas von ihnen nimmt«, meinte denn auch IAAF-Präsident Sebastian Coe. »Ich denke aber, es ist ein Schritt in die richtige Richtung, und wenn alles richtig organisiert und strukturiert ist, haben wir eine gute Chance, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.«
Die Reaktionen auf das Vorhaben, Welt- und Europarekorde, denen der Dopingmakel anhaftet, zu löschen und ab Anfang 2018 neue Rekordlisten zu führen, sind gespalten. Die Athleten kritisieren, dass damit alle Rekordhalter ohne Ansehen der Person mit Dopingsündern in einen Topf geworfen würden. Auch sei die juristische Durchsetzbarkeit nicht abgeklärt, weil es im Einzelfall unweigerlich zu Ungerechtigkeiten kommen wird. So löste die EAA-Botschaft bei der britischen Marathonläuferin Paula Rad- cliffe, die seit 2003 mit 2:15:25 Stunden Weltrekordinhaberin ist, Kopfschütteln aus. »Ich bin verletzt. Das beschädigt meinen Ruf und meine Würde«, sagte sie dem »Daily Telegraph«. »Es ist ein starkes Stück, einfach alle Rekorde tilgen zu wollen, weil man einige fragwürdige Rekorde nicht mehr haben will.«
Der frühere britische Hürdensprint-Weltrekordler Colin Jackson hält sich mit Kritik am IAAF-Präsidenten Coe nicht zurück: »Coe sollte sich genau überlegen, was er erreichen will und wie er es erreichen will. Die Fans blicken gerne zurück in die Geschichte, sie lieben es, Leistungen von damals und heute zu vergleichen.« Auch der einstige WeltklasseWeitspringer Mike Powell (USA), der seit den Weltmeisterschaften von 1991 mit 8,95 Metern den Weltrekord hält, kritisiert die Pläne. »Das ist respektlos, eine Ungerechtigkeit und ein Schlag ins Gesicht der Athleten. Ich habe bereits meinen Anwalt kontaktiert, um im Fall des Falles dagegen vorzugehen«, sagte der 53-Jährige der BBC. »Natürlich gibt es Rekorde aus der Vergangenheit, die man irgendwie anzweifeln muss. Aber eine solche Generalisierung ist unangemessen. Mein Rekord ist astrein. Der Rekord ist eine Story des Kampfeswillens und einer der größten Momente des Weltsports. Das kann man nicht einfach auslöschen.«
Geht der EAA-Antrag beim Weltverband durch, so könnten ab 1. Januar 2018 als Kompromiss womöglich zwei Rekordlisten parallel geführt werden: die alte und für immer geschlossene Rekordliste und die fortan neue. Man darf gespannt sein, wie vor allem die einflussreiche amerikanische, aber auch die afrikanische Leichtathletikszene auf dem IAAF-Kongress im Vorfeld der WM im August reagiert.
DLV-Chef Prokop prognostiziert allerdings: »Wenn der Weltverband zu keiner Änderung bereit ist, wird die EAA im Notfall auch allein eine Neuregelung vornehmen.« Inwieweit dann die ausschließlich auf Europa fokussierte Regelung sinnvoll ist, bleibt dahingestellt. Jedenfalls dürften im Vorfeld der 16. Weltmeisterschaften, die vom 5. bis 13. August im Olympiastadion in London stattfinden, die Debatten darüber weiterhin kontrovers geführt werden. Experten prophezeien allerdings, dass der als »revolutionär« angepriesene EAA-Vorschlag sein Ziel verfehlen wird.