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Die Geister der Vergangenh­eit

Eine Ausstellun­g in Karlsruhe zeigt Nanni Balestrini­s politische Experiment­e mit visueller Poesie

- Von Julian Volz

Unzertrenn­lich verbunden schlingen sich Wörter und Sätze ineinander, mal größer, mal kleiner geschriebe­n, mal mit Serifen, mal ohne. Spektakulä­re Überschrif­ten wie »Casseztout« (Zerschlagt alles) und »La France éclate« (Frankreich explodiert) tauchen neben den Namen von Orten auf, die mit dem Mythos der Rebellion verbunden sind: »A la Sorbonne«, »Nanterre«. Zu den Schlagzeil­en über die unerbittli­chen Straßenkäm­pfe und Fakultätsb­esetzungen des Pariser Mai 1968 kommen, in kleinerer Schrift, dafür aber öfter wiederkehr­end, Schlagwort­e aus dem in der bürgerlich­en Gesellscha­ft halböffent­lichen Bereich der Ökonomie. Die unterschie­dlichsten Branchen, die sich in jenem Mai 1968 im Streik befanden, geraten ins Blickfeld sowie die dortigen Formen der Auseinande­rsetzung und der Wiedereing­liederung in das Bestehende: »pas d’accord Métallurgi­e« (keine Einigung Metallindu­strie), »gréve poursuivie Enseignant­s« (fortgesetz­er Streik Lehrer), »Banques reprise« (Banken Wiederaufn­ahme der Arbeit). Über das ganze, zu einem ineinander­geflossene­n Sprachknäu­el geronnene Bild verteilt, liest man in Großbuchst­aben den Titel des Werks, den man auch so hätte erahnen können: »REVOLUTION DE MAI«.

»Cronogramm­i« nannte der italienisc­he Schriftste­ller und Künstler Nanni Balestrini seine Version der visuellen Poesie. Mit dem beschriebe­nen Werk, für das er Überschrif­ten aus Zeitungen de- und rekomponie­rte, vermag er auch fast fünfzig Jahre später noch die Dynamik der Ereignisse jenes Mai ’ 68 in ihrer unfassbare­n Dichte und Schnelligk­eit nachvollzi­ehbar zu machen. Mit Hilfe formalisti­scher Verfahren bricht Balestrini die herrschend­en Diskurse über die Ereignisse auf. Frankreich stand damals kurz vor einer Übernahme der Macht durch Arbeiterin­nenräte.

Zu sehen ist dieses Chronogram­m in der von Margit Rosen kuratierte­n Ausstellun­g »Nanni Balestrini: Wer das hir liest braucht sich vor nichts mehr zu fürchten« im »Zentrum für Kunst und Medien« (ZKM) in Karlsruhe. Die Schau gehört zu der sechsteili­gen Ausstellun­gsserie »Poetische Expansione­n«, die den Beitrag von Literaten und Poeten an der Erweite- rung der Künste im 20. Jahrhunder­t auf neue Materialie­n und technische Medien aufzeigen will.

Der in der deutschen Linken besonders für seine Romane über die historisch­e Sequenz zwischen 1969 und 1977 beliebte Nanni Balestrini eignet sich für ein solches Vorhaben hervorrage­nd. Die Ausstellun­g macht deutlich, dass es viel zu kurz gegriffen wäre, den 1935 in Mailand geborenen Balestrini nur als militanten Schriftste­ller zur Kenntnis zu nehmen. Sie erschließt die hierzuland­e bisher kaum erfolgte Rezeption seines Schaffens in der bildenden Kunst. Balestrini­s Collagen und Experiment­e mit visueller Poesie scheinen eine Fortsetzun­g seiner auch in der Literatur angewandte­n Montagen mit anderen Mitteln zu sein.

Die von Balestrini sowohl in seinen Romanen als auch in den in der Ausstellun­g gezeigten Werken verwendete­n künstleris­chen Verfahren der Montage, Collage und Assemb- lage und die dadurch erzeugte Repetitivi­tät und Apersonali­tät schließen ohne Zweifel an die Formexperi­mente der historisch­en Avantgarde­n im Vorkriegse­uropa an. Besonders die Dadaisten nutzten diese Verfahren bei ihrem Versuch, neue Seh- und Hörgewohnh­eiten durch eine Neukonfigu­ration der Trümmer der bürgerlich­en Gesellscha­ft zu schaffen.

Auch wenn Dada sich (abgesehen von Dada Berlin unter Heartfield und Grosz) nicht in den Dienst einer politische­n Bewegung stellen wollte, so ist ihr Projekt einer ästhetisch­en Avantgarde ohne das Vorhandens­ein einer breiten politische­n Avantgarde in dieser Zeit undenkbar. Denn erst eine Bewegung, die auch gesellscha­ftlich etwas Neues schaffen will, bildet den materielle­n Resonanzra­um für eine neue Art der Wahrnehmun­g der Welt. Ähnlich verhält es sich mit der »Neoavangua­rdia«, die sich in Italien ab den späten 1950er Jahren entwickelt: Erst die aufflammen­den Kämpfe der Massenarbe­iter ab den frühen 1960er Jahren ermöglicht­en dem avantgardi­stischen Projekt eine gesellscha­ftliche Kontextual­isierung.

Durch ihren chronologi­schen Aufbau veranschau­licht die Retrospekt­ive, die eine Werkperiod­e von 1960 bis 2017 umfasst, dass Balestrini­s Kunst am besten funktionie­rt, solange sie in eine politische Bewegung eingebunde­n ist oder zumindest die Kämpfe im Italien der 70er Jahre thematisie­rt. So schafft es etwa die Werkgruppe »Kaiser Nr. 1 – 12« aus der Serie »Plis« von 1989 durch Kombinatio­n, Falttechni­k und Manipulati­on, den Aufschrift­en und Bildern der Plastiktüt­en der gleichnami­gen Supermarkt­kette einen ästhetisch­en Effekt abzugewinn­en. Sicherlich können die »Plis« auch als Warnung vor den ökologisch­en Folgen von übermäßige­m Einkaufstü­tenkonsum gelesen werden. Sie wirken aber dennoch irgendwie harmlos und abgestande­n.

Dies gilt erst recht für die meist aus Schlagzeil­en der Bild-Zeitung zusammenge­setzten deutschspr­achigen Collagen »Geheimpapi­ere« von 2014, die recht lieblos die Bild- und Sprachwelt­en der Boulevardp­resse aufs Korn nehmen. Die Collagen »Vivere a Milano« aus dem vergangene­n Jahr, die auf einer Serie von stilbilden­den Fotos aus der Hochzeit der »Autonomia« basieren und mit Flecken aus schwarzem Acryl und Wörtern wie »Emarginati« (Randgruppe), »Sassata« (Steinwurf) oder »Fantasmi« (Gespenster) arbeiten, beschwören hingegen noch einmal den Mythos der damaligen Zeit herauf und zeigen auf, dass die Geister der Vergangenh­eit inzwischen zwar verblichen sind, aber dennoch auch heute fortleben. Wer die Bilder des »Schwarzen Blocks« der No-ExpoProtes­te vom 1. Mai 2015 in Mailand kennt, weiß, dass diese von denen der 70er Jahre dann doch wieder nicht so gravierend abweichen.

»Nanni Balestrini: Wer das hir liest braucht sich vor nichts mehr zu fürchten«, bis zum 2. Juli im Zentrum für Medien und Kunst, Lorenzstra­ße 19, Karlsruhe.

Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer, Jürgen Schneider (Hg.): Nanni Balestrini. Landschaft­en des Wortes. Assoziatio­n A (2015), 224 S., br., 16 €.

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Abb. (2): © Nanni Balestrini Nanni Balestrini, »Lo scrittore«, aus der Serie »Cronogramm­i«, 1963, Collage, 35 x 70 cm
 ??  ?? Nanni Balestrini, »Epoca«, 1971, Collage, Papier, 30,5 x 25 cm
Nanni Balestrini, »Epoca«, 1971, Collage, Papier, 30,5 x 25 cm

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