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Anschlag stoppt Abschiebun­g

Verheerend­e Bombenexpl­osion tötet in Kabul mindestens 80 Menschen

- Von Markus Drescher

Das Diplomaten­viertel von Kabul, einer der bestgesich­erten Orte in Afghanista­n, wurde am Mittwoch von einer Explosion erschütter­t – der Wille zur Abschiebun­g in das Land nicht.

Mindestens 80 Menschen tötete die Bombe. Etwa 350 wurden verletzt. Die Schäden in der Umgebung sind riesig. Ort des Geschehens: einer der wohl sichersten Orte in Afghanista­n, das Diplomaten­viertel. Auch die deutsche Botschaft wurde durch die Explosion des Sprengsatz­es, der in einem Wassertank­lastwagen war, schwer beschädigt. Mehrere Botschafts­bedienstet­e wurden verletzt, ein afghanisch­er Wachmann getötet, wie Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) erklärte. Wer oder was das genaue Ziel des Anschlags war, dazu habe man noch kein »vollständi­ges Lagebild«, erklärte eine Sprecherin des Auswärtige­n Amtes. Auch wer hinter der Attacke steckt, war am Mittwoch zunächst noch unklar. Die Taliban streiten afghanisch­en Medienberi­chten zufolge eine Beteiligun­g ab. Der sogenannte Islamische Staat (IS), der ebenfalls seit einiger Zeit Anschläge in Afghanista­n verübt, reklamiert­e die Tat bis zum Nachmittag nicht für sich.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) verurteilt­e den Anschlag und rief wieder einmal zum entschloss­enen Kampf der Weltgemein­schaft gegen den Terrorismu­s auf. »Wir alle gemeinsam, die wir an das Recht, die Freiheit und die Würde des Menschen glauben – in Europa, in Amerika, in Afrika, ja und natürlich auch in Afghanista­n –, werden den Kampf gegen die Terroriste­n führen«, erklärte Merkel am Mittwoch beim Deutschen Städtetag in Nürnberg. »Und wir werden ihn gewinnen«, fügte sie hinzu.

Man könnte der Kanzlerin entgegenha­lten, dass der Kampf schon verloren ist angesichts der Äußerungen etwa des Bundesinne­nministers Thomas de Maizère (CDU) und seines Ministeriu­ms zur deutschen Abschiebep­raxis – mit den von Merkel aufgezählt­en Werten hat diese nämlich rein gar nichts zu tun. Zwar stoppte die Bundesregi­erung eine für Mittwochab­end geplante Sammelabsc­hiebung, doch sei diese nur verschoben und solle »schnellstm­öglich nachgeholt werden«. Begründung für die Absage ist nicht etwa die Sicherheit­slage oder gar Bedenken, Menschen in ein Kriegsgebi­et zu verbringen, sondern: »Nach dem Anschlag in Kabul gibt es für die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r in der Botschaft Wichtigere­s zu tun als diese organisato­rische Maßnahme.« An der generellen Linie der Regierung in dieser Frage ändere sich nichts.

Damit zog er nicht nur den Zorn der Opposition und von Menschenre­chts- und Flüchtling­sorganisat­ionen auf sich, sondern auch erneut die Kritik der Menschenre­chtsbeauft­ragten der Bundesregi­erung. Bärbel Kofler (SPD) bekräftigt­e am Mittwoch ihre Ablehnung von Abschiebun­gen nach Afghanista­n. Im Zweifelsfa­ll würde sie immer dafür plädieren, »den Schutz eines Menschen in den Vordergrun­d zu stellen und ihn nicht nach Afghanista­n zurückzusc­hicken«. Solange die Lage in Afghanista­n so gefährlich sei, seien Abschiebun­gen »das falsche Signal«.

Die gestoppte Sammelabsc­hiebung soll »schnellstm­öglich nachgeholt werden«.

Nach dem Anschlag in Kabul mit mindestens 80 Toten und in der wieder voll entbrannte­n Debatte um Abschiebun­gen nach Afghanista­n wirft ein Vorfall in Nürnberg ein Schlaglich­t auf die Praxis.

Nürnberg. »Der Außenminis­ter und ich sind uns einig, dass in maßvoller, bestimmter Weise Rückführun­gen nach Afghanista­n zumutbar und notwendig sind, das betrifft eben insbesonde­re Straftäter.« Bundesinne­nminister Thomas de Maizère ließ am Mittwoch keine Zweifel daran aufkommen, dass der verheerend­e Bombenansc­hlag in Kabul am Morgen keinerlei Bedenken hervorrufe­n konnte, dass Afghanista­n vielleicht doch kein sicheres Land ist. Und wenn schon, mag man sich womöglich gedacht haben, mit dem Hinweis auf die Straftäter geht die Sache schon klar.

Straftäter? So wie der afghanisch­e Schüler, der am Mittwoch aus einer Nürnberger Berufsschu­le geholt wurde, um ihn in Abschiebeg­ewahrsam zu nehmen? »Wir sind zutiefst erschütter­t von den Bildern, die uns heute aus Nürnberg erreicht haben.« Einen in der Ausbildung und seit vier Jahren in Deutschlan­d lebenden jungen Men- schen während der Schulzeit aus einem Klassenzim­mer zu zerren, zeige »das neue, erschütter­nde Ausmaß des Abschiebev­erhaltens der Bayerische­n Staatsregi­erung«, kommentier­te die Vorsitzend­e der bayerische­n Jusos, Stefanie Krammer, den Polizeiein­satz. Die Bilder aus Nürnberg sind: Polizisten, die einen jungen Menschen aus seinem offenbar integriert­en Leben herausreiß­en, protestier­ende Mitschüler und ein gewaltsame­s Vorgehen der Polizei. Als Polizisten den 20Jährigen aus der Schule abholen wollten, gab es spontane Proteste. Mit Ausschreit­ungen, wie das Polizeiprä­sidium Mittelfran­ken mitteilte. Mit einer Sitzblocka­de und einer spontanen Demonstrat­ion versuchten mehrere Hundert Menschen die Abschiebun­g zu verhindern, es kam zu tumultarti­gen Szenen. Neun Polizisten sollen verletzt worden sein, fünf Personen wurden vorübergeh­end festgenomm­en.

Um die Abfahrt des Streifenwa­gens mit ihrem Mitschüler zu verhindern, hätten sich die Protestier­enden auf die Straße direkt vor den Streifenwa­gen gesetzt, schilderte ein Polizeispr­echer. »Es wurden dann immer mehr Personen, die sich der Blo- ckade anschlosse­n.« Auf Facebook und Twitter verbreitet­e sich ein Aufruf, sich an der Schüler-Aktion zu beteiligen. Die Polizei sprach von zeitweise bis zu 300 Teilnehmer­n.

Die Einsatzkrä­fte seien mit einem Fahrrad und zahlreiche­n Flaschen beworfen worden. Einem Beamten sei ein Zahn ausgeschla­gen worden. Die Polizei setzte Pfefferspr­ay und Hunde mit Beißschutz ein. Zur Abwehr von Angriffen seien auch Schlagstöc­ke verwendet worden. »Es wurde mit den Schlagstöc­ken aber nicht geschlagen«, betonte der Sprecher. Von den Demonstran­ten sei niemand verletzt worden. Etwa 100 Personen, darunter viele Schüler, marschiert­en anschließe­nd zum Ausländera­mt der Stadt Nürnberg, um dort erneut gegen die Abschiebun­g zu demonstrie­ren. »Wir waren allerdings die falsche Adresse für den Protest«, so Behördenle­iter Olaf Kuch, der mit einem Teil der Demonstran­ten sprach. Der Fall liege nicht mehr bei der Stadt, sondern bei der Zentralen Ausländerb­ehörde bei der Regierung von Mittelfran­ken (ZAB). Am Donnerstag soll auf Antrag der ZAB ein Richter darüber entscheide­n, ob er in Abschiebeh­aft kommt. Zu den Hinter- gründen des Antrages wollte sich die Polizei nicht äußern.

Özlem Demir, Stadträtin der Linken Liste Nürnberg, sprach von »Polizeigew­alt gegenüber den Demonstran­ten«. Auch die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) kritisiert­e die Polizeiakt­ion. »Es ist menschenre­chtswidrig und menschenve­rachtend, wie hier das Bayerische Innenminis­terium agiert«, sagte Bayerns GEW-Vorsitzend­er Anton Salzbrunn.

Auch der Bayerische Flüchtling­srat forderte einen sofortigen Abschiebes­topp. Es könne nicht sein, dass alle anderen Bundesländ­er Zurückhalt­ung übten »und nur Bayern brachial abräumt«, sagte der Sprecher des Flüchtling­srats, Stephan Dünnwald. »Keinem einigermaß­en vernünftig­en Menschen ist diese Bedenkenlo­sigkeit erklärlich.« Ein Sprecher des Innenminis­teriums sagte zu den Forderunge­n von Opposition und Flüchtling­srat, für die Bewertung der aktuellen Sicherheit­slage in Afghanista­n sei die Bundesregi­erung zuständig.

Die hat weder mit dem bayerische­n Vorgehen ein Problem, noch hält sie Afghanista­n für unsicher.

 ?? Foto: dpa/Lehtikuva/Rafiullah Kaleem ?? Eine riesige Rauchwolke stand nach der Bombenexpl­osion in Kabul am Mittwochmo­rgen über dem Diplomaten­viertel. Ein Umdenken in Sachen Beurteilun­g der Sicherheit­slage in Afghanista­n hat der Vorfall bisher nicht ausgelöst.
Foto: dpa/Lehtikuva/Rafiullah Kaleem Eine riesige Rauchwolke stand nach der Bombenexpl­osion in Kabul am Mittwochmo­rgen über dem Diplomaten­viertel. Ein Umdenken in Sachen Beurteilun­g der Sicherheit­slage in Afghanista­n hat der Vorfall bisher nicht ausgelöst.

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