Anschlag stoppt Abschiebung
Verheerende Bombenexplosion tötet in Kabul mindestens 80 Menschen
Das Diplomatenviertel von Kabul, einer der bestgesicherten Orte in Afghanistan, wurde am Mittwoch von einer Explosion erschüttert – der Wille zur Abschiebung in das Land nicht.
Mindestens 80 Menschen tötete die Bombe. Etwa 350 wurden verletzt. Die Schäden in der Umgebung sind riesig. Ort des Geschehens: einer der wohl sichersten Orte in Afghanistan, das Diplomatenviertel. Auch die deutsche Botschaft wurde durch die Explosion des Sprengsatzes, der in einem Wassertanklastwagen war, schwer beschädigt. Mehrere Botschaftsbedienstete wurden verletzt, ein afghanischer Wachmann getötet, wie Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) erklärte. Wer oder was das genaue Ziel des Anschlags war, dazu habe man noch kein »vollständiges Lagebild«, erklärte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. Auch wer hinter der Attacke steckt, war am Mittwoch zunächst noch unklar. Die Taliban streiten afghanischen Medienberichten zufolge eine Beteiligung ab. Der sogenannte Islamische Staat (IS), der ebenfalls seit einiger Zeit Anschläge in Afghanistan verübt, reklamierte die Tat bis zum Nachmittag nicht für sich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilte den Anschlag und rief wieder einmal zum entschlossenen Kampf der Weltgemeinschaft gegen den Terrorismus auf. »Wir alle gemeinsam, die wir an das Recht, die Freiheit und die Würde des Menschen glauben – in Europa, in Amerika, in Afrika, ja und natürlich auch in Afghanistan –, werden den Kampf gegen die Terroristen führen«, erklärte Merkel am Mittwoch beim Deutschen Städtetag in Nürnberg. »Und wir werden ihn gewinnen«, fügte sie hinzu.
Man könnte der Kanzlerin entgegenhalten, dass der Kampf schon verloren ist angesichts der Äußerungen etwa des Bundesinnenministers Thomas de Maizère (CDU) und seines Ministeriums zur deutschen Abschiebepraxis – mit den von Merkel aufgezählten Werten hat diese nämlich rein gar nichts zu tun. Zwar stoppte die Bundesregierung eine für Mittwochabend geplante Sammelabschiebung, doch sei diese nur verschoben und solle »schnellstmöglich nachgeholt werden«. Begründung für die Absage ist nicht etwa die Sicherheitslage oder gar Bedenken, Menschen in ein Kriegsgebiet zu verbringen, sondern: »Nach dem Anschlag in Kabul gibt es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Botschaft Wichtigeres zu tun als diese organisatorische Maßnahme.« An der generellen Linie der Regierung in dieser Frage ändere sich nichts.
Damit zog er nicht nur den Zorn der Opposition und von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen auf sich, sondern auch erneut die Kritik der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung. Bärbel Kofler (SPD) bekräftigte am Mittwoch ihre Ablehnung von Abschiebungen nach Afghanistan. Im Zweifelsfall würde sie immer dafür plädieren, »den Schutz eines Menschen in den Vordergrund zu stellen und ihn nicht nach Afghanistan zurückzuschicken«. Solange die Lage in Afghanistan so gefährlich sei, seien Abschiebungen »das falsche Signal«.
Die gestoppte Sammelabschiebung soll »schnellstmöglich nachgeholt werden«.
Nach dem Anschlag in Kabul mit mindestens 80 Toten und in der wieder voll entbrannten Debatte um Abschiebungen nach Afghanistan wirft ein Vorfall in Nürnberg ein Schlaglicht auf die Praxis.
Nürnberg. »Der Außenminister und ich sind uns einig, dass in maßvoller, bestimmter Weise Rückführungen nach Afghanistan zumutbar und notwendig sind, das betrifft eben insbesondere Straftäter.« Bundesinnenminister Thomas de Maizère ließ am Mittwoch keine Zweifel daran aufkommen, dass der verheerende Bombenanschlag in Kabul am Morgen keinerlei Bedenken hervorrufen konnte, dass Afghanistan vielleicht doch kein sicheres Land ist. Und wenn schon, mag man sich womöglich gedacht haben, mit dem Hinweis auf die Straftäter geht die Sache schon klar.
Straftäter? So wie der afghanische Schüler, der am Mittwoch aus einer Nürnberger Berufsschule geholt wurde, um ihn in Abschiebegewahrsam zu nehmen? »Wir sind zutiefst erschüttert von den Bildern, die uns heute aus Nürnberg erreicht haben.« Einen in der Ausbildung und seit vier Jahren in Deutschland lebenden jungen Men- schen während der Schulzeit aus einem Klassenzimmer zu zerren, zeige »das neue, erschütternde Ausmaß des Abschiebeverhaltens der Bayerischen Staatsregierung«, kommentierte die Vorsitzende der bayerischen Jusos, Stefanie Krammer, den Polizeieinsatz. Die Bilder aus Nürnberg sind: Polizisten, die einen jungen Menschen aus seinem offenbar integrierten Leben herausreißen, protestierende Mitschüler und ein gewaltsames Vorgehen der Polizei. Als Polizisten den 20Jährigen aus der Schule abholen wollten, gab es spontane Proteste. Mit Ausschreitungen, wie das Polizeipräsidium Mittelfranken mitteilte. Mit einer Sitzblockade und einer spontanen Demonstration versuchten mehrere Hundert Menschen die Abschiebung zu verhindern, es kam zu tumultartigen Szenen. Neun Polizisten sollen verletzt worden sein, fünf Personen wurden vorübergehend festgenommen.
Um die Abfahrt des Streifenwagens mit ihrem Mitschüler zu verhindern, hätten sich die Protestierenden auf die Straße direkt vor den Streifenwagen gesetzt, schilderte ein Polizeisprecher. »Es wurden dann immer mehr Personen, die sich der Blo- ckade anschlossen.« Auf Facebook und Twitter verbreitete sich ein Aufruf, sich an der Schüler-Aktion zu beteiligen. Die Polizei sprach von zeitweise bis zu 300 Teilnehmern.
Die Einsatzkräfte seien mit einem Fahrrad und zahlreichen Flaschen beworfen worden. Einem Beamten sei ein Zahn ausgeschlagen worden. Die Polizei setzte Pfefferspray und Hunde mit Beißschutz ein. Zur Abwehr von Angriffen seien auch Schlagstöcke verwendet worden. »Es wurde mit den Schlagstöcken aber nicht geschlagen«, betonte der Sprecher. Von den Demonstranten sei niemand verletzt worden. Etwa 100 Personen, darunter viele Schüler, marschierten anschließend zum Ausländeramt der Stadt Nürnberg, um dort erneut gegen die Abschiebung zu demonstrieren. »Wir waren allerdings die falsche Adresse für den Protest«, so Behördenleiter Olaf Kuch, der mit einem Teil der Demonstranten sprach. Der Fall liege nicht mehr bei der Stadt, sondern bei der Zentralen Ausländerbehörde bei der Regierung von Mittelfranken (ZAB). Am Donnerstag soll auf Antrag der ZAB ein Richter darüber entscheiden, ob er in Abschiebehaft kommt. Zu den Hinter- gründen des Antrages wollte sich die Polizei nicht äußern.
Özlem Demir, Stadträtin der Linken Liste Nürnberg, sprach von »Polizeigewalt gegenüber den Demonstranten«. Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisierte die Polizeiaktion. »Es ist menschenrechtswidrig und menschenverachtend, wie hier das Bayerische Innenministerium agiert«, sagte Bayerns GEW-Vorsitzender Anton Salzbrunn.
Auch der Bayerische Flüchtlingsrat forderte einen sofortigen Abschiebestopp. Es könne nicht sein, dass alle anderen Bundesländer Zurückhaltung übten »und nur Bayern brachial abräumt«, sagte der Sprecher des Flüchtlingsrats, Stephan Dünnwald. »Keinem einigermaßen vernünftigen Menschen ist diese Bedenkenlosigkeit erklärlich.« Ein Sprecher des Innenministeriums sagte zu den Forderungen von Opposition und Flüchtlingsrat, für die Bewertung der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan sei die Bundesregierung zuständig.
Die hat weder mit dem bayerischen Vorgehen ein Problem, noch hält sie Afghanistan für unsicher.