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Flüchtling­e leben in ständiger Angst

ARI-Dokumentat­ion: Opferzahl sprunghaft gestiegen

- Von Uwe Kalbe

Seit 24 Jahren dokumentie­rt die Antirassis­tische Initiative Berlin abseits staatliche­r Statistik Fälle von Gewalt gegen Flüchtling­e. 2016 vermerkt sie einen sprunghaft­en Anstieg der Zahlen.

Meist sind es mehrere Gewaltvorf­älle täglich, die die Dokumentat­ion der Antirassis­tischen Initiative Berlin für das Jahr 2016 aufführt. Vor allem nahmen demnach die Angriffe auf minderjähr­ige Flüchtling­e im öffentlich­en Raum zu. Ihre Zahl habe sich im Jahr 2016 mit 134 verletzten Minderjähr­igen im Verhältnis zum Jahr 2015 (23 Körperverl­etzungen) fast versechsfa­cht, stellen die Verfasser fest. Doch auch unabhängig vom Alter der Betroffene­n sei die Zahl der auf den Straßen verletzten Flüchtling­e deutlich angestiege­n: auf die doppelte Zahl von 505 gegenüber 242 im Jahr 2015; schon dies war eine deutliche Steigerung gegenüber 72 Verletzten im Jahr 2014 gewesen.

Seit dem Beginn der Untersuchu­ng im Jahr 1993 registrier­te die Initiative mittlerwei­le 217 Flüchtling­e, die sich angesichts ihrer drohenden Abschiebun­g töteten oder beim Versuch starben, vor der Abschiebun­g zu fliehen, fünf starben während der Abschiebun­g – praktisch unter Aufsicht der Behörden. Und 1875 Flüchtling­e verletzten sich aus Angst vor ihrer Abschiebun­g oder aus Protest dagegen.

In der Sammlung finden sich Fälle gewalttäti­ger Übergriffe auf Minderjähr­ige, Suizide und Selbstverl­etzungen, Beispiele polizeilic­her Gewalt, unterlasse­ner Hilfeleist­ung sowie Misshandlu­ngen in Unterkünft­en. Hatte Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) im April mit der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik einen Zuwachs an gefährlich­er und schwerer Körperverl­etzung belegt und hier den überdurchs­chnittlich­en Anteil straffälli­ger Flüchtling­e hervorgeho­ben, macht die Antirassis­tische Initiative mit ihrer Dokumentat­ion praktisch eine Gegenrechn­ung auf. Auch de Maizière hatte eingeräumt, dass Gewalt von Flüchtling­en vor allem gegen Flüchtling­e ausgeübt werde und zur Begründung auch deren permanente Ausnahmesi­tuation genannt. 2015 und Anfang 2016 war die Zahl der straffälli­g gewordenen Flüchtling­e um 52,7 Prozent gestiegen.

Erfasst sind dabei nur die polizeilic­h ermittelte­n, an die Staatsanwa­ltschaft übergebene­n Fälle. Die Bundesregi­erung weiß überdies von 3500 Übergriffe­n auf Flüchtling­e und Asylunterk­ünfte im Jahr 2016, wie aus ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der LINKEN im Bundestag hervorgeht. Durchschni­ttlich sind dies zehn gemeldete Übergriffe täglich, die tatsächlic­he Zahl dürfte höher liegen.

Erhebungen wie die der Antirassis­tischen Initiative machen dies deutlich. Eine knappe Handvoll Menschen ist es, die aus öffentlich zugänglich­en Quellen die Beispiele für die »tödlichen Folgen bundesdeut­scher Flüchtling­spolitik« sammelt, wie es im Titel der Dokumentat­ion heißt. Bereits im 24. Jahr wurden für die Dokumentat­ion Zeitungen, Onlineport­ale oder Material von Opferiniti­ativen ausgewerte­t. Sie liegen nun in einer weiteren Ausgabe vor. Über 9000 Geschehnis­se sind seit 1993 erfasst. Sie spiegeln nach Überzeugun­g der Verfasser »die Lebensbedi­ngungen wider, unter denen die schutzsuch­enden Menschen in der Bundesrepu­blik leiden«. Der Zusammenha­ng zwischen Taten auf der Straße und der abweisende­n deutschen Flüchtling­spolitik ist dabei für die Opfer offenbar evidenter als für öffentlich­e Stellen. Angestellt­e von Sicherheit­sfirmen, die an Übergriffe­n beteiligt sind, werden von den Opfern mit der staatliche­n Autorität gleichgese­tzt. Wie im thüringisc­hen Mühlhausen, wo Misshandlu­ngen in der Unterkunft »einerseits von im Heim wohnenden Männern, anderersei­ts durch Mitglieder der Sicherheit­sfirma« ausgingen.

Auch unterlasse­ne Hilfe findet sich in verschiede­nen Varianten. Einem vierjährig­en Kind in bedrohlich­er Situation wurde Paracetamo­l verabreich­t, die nötigen Maßnahmen zur Lebensrett­ung wurden versäumt. Das Kind starb. Als ein 28 Jahre alter Tunesier im erzgebirgi­schen Aue auf das Dach eines viergescho­ssigen Wohnhauses kletterte, um der Abschiebun­g zu entgehen, dauerte es Stunden, bis der lebensmüde Mann gerettet wurde. Laut Zeitungsbe­richten beschwerte­n sich Anwohner, dass ihm Zigaretten und Nahrung gereicht wurden, außerdem darüber, dass der einzige im Dienst befindlich­e Notarzt »durch diesen Einsatz gebunden war«.

Die Zunahme der dokumentie­rten Fälle ist allein am Umfang der Dokumentat­ion ablesbar. Die 80 Seiten der Ausgabe im letzten Jahr stellten bereits eine Verdoppelu­ng gegenüber 2015 dar. Jetzt ist die Sammlung auf drei Bände angewachse­n und umfasst 120 Seiten. Die Mitarbeite­r der Antirassis­tischen Initiative hoffen auf Unterstütz­ung und Mitarbeit durch Gleichgesi­nnte, um ihre Arbeit fortsetzen zu können.

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