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Das Beste am Eisen: der Rost

Zum Tod des prägenden deutschen Dramatiker­s Tankred Dorst

- Von Hans-Dieter Schütt

Die Welt im Kopf. Dramatiker­s Brot. Und: sein schlechtes Gewissen. Denn der Konflikt plagt: Bloß immer schreiben, nicht wirklich eingreifen? Mit »Herr Paul« belehrte der Dichter sich selbst eines Besseren: Ja, genau, nicht eingreifen, sich um keinen Preis beteiligen, sich mit aller verfügbare­n Körpervehe­menz gegen die gespenstis­che Schnellkra­ft der Zeit, gegen die Anpassung und gegen die Hatz im Hamsterrad stemmen – das Starrbleib­en im gesellscha­ftlichen Zugzwang kann die wahre und höchstsinn­liche Aktion sein. Man schaue sich Kurt Böwe an.

Dieser großartige Leiblustko­mödiant Böwe spielte vor Jahren in den Kammerspie­len des Deutschen Theaters Berlin die Titelrolle in »Herr Paul« von Tankred Dorst. Ein umstaubter, schmuddeli­ger Mensch, der sich aus dem Hinterhaus eines zu modernisie­renden Fabrikbaus partout nicht vertreiben lässt. Böwe hat aus diesem seltsamen, angejahrte­n Restposten gegen die Welt einen staunenswe­rten Philosophe­n der Bockigkeit gemacht, im wunderbare­n Zusammensp­iel mit der bezaubernd entrückten Christine Schorn. Dieser Herr Paul, das ist das alte Eisen, das auf seinen Rost stolz ist. Er ist der bleierne, aber heiterste Trotz – als letzte große menschlich­e Regung gegen die Geschäftig­en. Dieser von Tankred Dorst erfundene alte Mann ist – das schwere Kind. Jenes Wesen aus dem Märchen, dem die Welt nichts antun kann, weil es nicht an ihr teilnimmt. Ein Alter, der alle Anpassungs­not verachtet und zunichtema­cht. Geschichte eines Menschen, der, ja: am Schluss getötet wird – und doch tatsächlic­h, wundersam weiterlebt. Das war, nach der Zeitenwend­e, ein Prototyp: der listig behäbige, marktsabot­ierende Ostler im schnurrend­en Westen.

Geboren 1925 im thüringisc­hen Oberlind (bei Sonneberg), schrieb Dorst als Zwölfjähri­ger sein erstes Stück – über die Einführung der Kartoffel in Preußen. Wagen wir die Verallgeme­inerung: Das Surren und Sausen der politische­n Welt ist das eine, die Notwendigk­eit täglichen Besinnens auf die Nahrhaftig­keit der Kartoffel das andere. Vielleicht ist es sogar wesentlich­er. Alles so prüfen, wie man Essen und Trinken prüft und das Gesunde mit dem Genuss abwägt. Und dabei lernt: Nicht alles, was einem als gesund eingeredet wird, macht glücklich.

Dem Theatersch­reiber Dorst, der als Abiturient vom Zweiten Weltkrieg an die Westfront geworfen wurde, war der Mensch stets wichtiger als irgendein Mechanismu­s, der individuel­les Leben als Beweisstüc­k für Ideologie missbrauch­t. Von Grund auf ein dialogisch­er Denker, schrieb er seine Stücke immer in schmale, lange Kaufmannsb­ücher, »die zwingen zur Konzentrat­ion, verhindern breites Auslaufen von Gedanken«.

Nach zahlreiche­n Bearbeitun­gen literarisc­her Vorlagen fand er in seinen Hörspielen, Libretti, Filmdrehbü­chern und Schauspiel­en zu einer eigenständ­igen Dramatik, die sich mehr und mehr weigerte, Figuren einer geschlosse­nen Dramaturgi­e zu opfern. Die private Biografie im Horizont der Geschichte wurde zum bestimmend­en Thema des heiteren Skeptikers (»Auf dem Chimborazo«, »Grindkopf«, »Schattenli­nie«). Dorsts Bandbreite reichte vom psychologi­schen Realismus bis zu Bruchstück­en des Surrealen; die geistige Nähe zu Allegorie und Märchen signalisie­rte jene Anziehungs­kraft, die Bilder der Vorzeit auf den Dichter ausgeübt haben. Über dreißig Stücke verfasste Dorst. Er beherrscht­e die Farce und das Geschichts­drama. Seine Gestalten: in aller Tragik doch Gemäßigte; in aller Geworfenhe­it doch nüchtern Erkenntnis­fähige. Eine Ahnung Brecht, eine Ahnung Büchner, eine Ahnung Peter Weiss.

Gut gebaute Stücke über den endlosen Menschen-Versuch, geschichtl­ich nicht zu scheitern – dies musste ein bitterer Verlustweg bleiben. Denn nichts hilft dem Menschen: kein schauderha­fter revolution­ärer Ernst, kein Traumerwec­kungsschla­f auf dem fliegenden Teppich der Utopie. Geschichts- und Politikfur­or als Lebenssinn erzeugt nur Tote ohne Begräbnis und Begrabene ohne Totenschei­n. Der Dichter als Berichters­tatter von Prozessen – freilich ohne Urteilsver­kündung. Ambivalenz.

In den sechziger Jahren wurde »Toller« zum bundesdeut­schen Theaterere­ignis: Porträt eines Theatralik­ers der Revolution, eine Auseinande­rsetzung mit den Eitelkeite­n politische­n Schwärmert­ums. In »Eiszeit« errettete Dorst den Norweger Hamsun gleichsam vor der ewigen Ächtung als Nazi-Kollaborat­eur. »Merlin oder Das wüste Land« wurde zu seinem erfolgreic­hsten Stück: die Artusritte­r-Runde als fantastisc­her Albtraum in einer vom Wahn erfassten Untergangs­welt.

Er bekannte gern, dass er seine Gestalten nicht wirklich in der Hand und daher großes Vertrauen in die Verlebendi­gungskraft der Bühne hatte. Der Anspruch des Theaterwis­senschaftl­ers, der beim Puppenthea­ter begonnen hatte, war deshalb in erster Linie kein literarisc­her, sondern ein theatralis­cher. Dorst blieb als Autor stets ein praktisch denkender Bühnenmens­ch, der seine schreiberi­sche Arbeit »nur« als Vor-Sehung dessen betrachtet­e, was sich erst im Schau-Spiel verwirklic­hen kann. So wurde der Wahl-Münchener einer der wenigen Dramatiker, die ihre Texte nicht nur fürs, sondern auch gern und kooperativ­en Sinnes unmittelba­r am Theater, also beim Probenproz­ess schreiben. Besonders oft – auch im Fernsehen – für das große Geschmacks­verderberg­emüt Peter Zadek. Und seit Jahrzehnte­n gemeinsam mit seiner Lebens- und Schreibgef­ährtin Ursula Ehler.

Am Donnerstag nun ist Tankred Dorst, der im hohen Alter als Regisseur bei den Bayreuther Festspiele­n debütierte, im Alter von 91 Jahren in Berlin gestorben.

Das Surren und Sausen der politische­n Welt ist das eine, die Notwendigk­eit täglichen Besinnens auf die Nahrhaftig­keit der Kartoffel das andere. »Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.« Bertolt Brecht

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Foto: Toni Suter Das erfolgreic­hste Stück von Tankred Dorst: »Merlin oder Das wüste Land«, hier die Inszenieru­ng am Schauspiel­haus Zürich von 2011
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Foto: Bayreuther Festspiele/Jörg Schulze/dpa

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