Depressionen mal schnell weggemailt?
Onlineangebote für psychisch Erkrankte erfordern sorgfältige Risikoprüfung und sind nicht für alle Betroffenen geeignet
Die virtuelle Behandlung psychischer Leiden ist teils erfolgreich, möglicherweise ist dadurch aber die Vielfalt therapeutischer Angebote gefährdet. Sechs bis acht Wochen Onlinetherapie gegen eine leichte bis mittelschwere Depression oder monatelange Psychotherapie in einer Praxis? Die Entscheidung scheint auf den ersten Blick leicht. Belastende Wartezeiten von drei bis fünf Monaten fallen weg oder werden zumindest stark reduziert, Patienten besonders in ländlichen Gebieten sparen sich Wege, für Berufstätige gestalten sich Terminvereinbarungen weniger kompliziert, und nicht zuletzt kommt das niedrigschwellige Angebot denen entgegen, die den Weg in eine psychotherapeutische Praxis bisher scheuen. Nicht zu bestreiten sind außerdem ökonomische Vorteile: Die Behandlung im Netz erfordert vier- bis fünfmal weniger Zeit als die ambulante Therapie in der Praxis. Der Kostenvorteil gilt allerdings nur in den Bereichen, für die sie in Deutschland bereits zugelassen ist und die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Ansonsten kann es teuer werden.
Unter anderem in Schweden, den Niederlanden, Großbritannien und Australien wird bei psychischen Erkrankungen seit Jahren erfolgreich mit Onlineangeboten gearbeitet. Sie dienen der Prävention, der Therapie sowie der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Metaanalysen zeigen, dass internetbasierte Interventionen bei Depressionen eine ähnlich hohe Wirksamkeit aufweisen wie die ambulante Behandlung in einer Praxis.
Ein Erklärungsansatz für die inzwischen in vielen Studien nachgewiesene Erfolgsquote besteht in der hier verwendeten Schriftform. Schreiben erfordert mehr Reflexion. Viele Menschen haben bereits ganz privat die Erfahrung gemacht, dass Schreiben ihnen bei der Bewältigung von Krisen und in schwierigen Entscheidungssituationen geholfen hat. Hinzu kommt, dass Patienten den therapeutischen Verlauf speichern und nachlesen können, was hilfreich sein kann, sollten sich alte Denk- und Verhaltensmuster wieder einschleichen. Voraussetzung für den Erfolg ist in jedem Fall Affinität für das Internet. Patienten, für die ein Computer bereits eine technische Herausforderung darstellt oder die darin ein notwendiges Übel unserer Zeit sehen, profitieren von Onlinetherapien nicht oder brechen sie gar nach kurzer Zeit ab.
Auch hierzulande existieren inzwischen viele Beratungs- und Behandlungsangebote im Internet oder per App. Sie dienen zum einen der Selbsthilfe, zum anderen der therapeutischen Unterstützung. Ihre Qualität ist für Laien nicht zu beurteilen, die Qualifikation der Anbieter oft nicht klar. Noch gibt es weder eine Liste qualitätsgeprüfter Angebote noch eine Liste von Kriterien, die auch für Patienten handhabbar sind.
Einige der virtuellen Angebote bewertet die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) als riskant, »insbesondere, wenn es um Sorgfaltspflichten bei der Diagnosestellung, Behandlung oder Einschätzung des Suizidrisikos geht«. BPtK-Präsident Dietrich Munz unterscheidet zwischen Informationsangeboten, Kommunikation (wie in Videosprechstunden) und psychotherapeutischer Behandlung per E-Mail. Letztere darf derzeit in Deutschland von Psychologischen Psychotherapeuten nur im Rahmen extra genehmigter Modellprojekte durchgeführt werden. Die Diagnosen müssen unbedingt im persönlichen Kontakt erstellt werden.
Man könnte meinen, Psychotherapeuten fürchteten angesichts von Onlinekonkurrenz um ihre Einnahmen, doch das ist angesichts der langen Wartelisten eher nicht der Grund für eine gewisse Skepsis. Lange Zeit galt die Beziehung zwischen Therapeut und Patient als einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für die Psychotherapie. Diese Beziehung über eine wöchentliche Feedback-E-Mail aufzubauen, erscheint vielen schwierig bis unmöglich. Einige Studien deuten jedoch darauf hin, dass sich ein therapeutischer Erfolg in Wahrheit nur zu vier bis fünf Prozent auf diese persönliche Beziehung zurückführen lässt.
Kritisch sehen Therapeuten zudem die fast ausnahmslos verhaltenstherapeutische Ausrichtung von Onlineangeboten. Durch die Beschränkung auf Richtlinienverfahren sind schon jetzt die Gesprächspsychotherapie und andere Ansätze vom Aussterben bedroht. Der Psychologische Psychotherapeut Roland Raible vergleicht den Prozess mit dem Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt, das nur von einem kleinen Teil der Weltbevölkerung als dramatisch angesehen werde. Den Verlust, dessen Konsequenzen oft nicht absehbar sind, hielten viele für hinnehmbar.
Mindestens so ernst zu nehmen sind weitere Vorbehalte der Bundespsychotherapeutenkammer sowie die auch von Befürwortern der Onlinetherapie nicht bestrittenen Nachteile. Dazu gehören die Identifizierung des Patienten, ungeklärte Frage wie der Schutz der übertragenen Daten und die Versorgung von Patienten in akuten Krisen sowie die von Gewinnstreben geleitete Masse ständig neuer Angebote, hinter denen eine Marketingstrategie deutlich erkennbar ist.
Auch rechtlich sind noch längst nicht alle Fragen im Kontext von Onlineangeboten für Menschen mit psychischen Erkrankungen geklärt. Orientierungshilfe bieten die Begriffe »Beratung«, »Selbsthilfe« und »Behandlung«. Hinter »Beratung« verbergen sich oft Anbieter, die mit diesem Begriff die strengen Qualitätsanforderungen an Behandler umgehen wollen. »Selbsthilfe« verspricht vor allem Information, wie sie in Buchform bereits seit Jahrzehnten existiert und einige Leser zu größerer Aktivität im Sinne ihrer Gesundheit geführt hat. »Behandlung« erfordert den Abschluss als Psychologischer oder ärztlicher Psychotherapeut. Im Zweifelsfall hilft Nachfrage bei einer Psychotherapeutenkammer oder dem Berufsverband der Psychologen.