nd.DerTag

Die Qual der Wahlprogra­mme

Parteien werben mit Katalogen ihrer Ziele um Stimmen. Oder geht es um etwas anderes?

- Von Tom Strohschne­ider

Das wissenscha­ftliche Urteil ist bekannt: Wahlprogra­mme sind oft unverständ­lich und zu lang. Wozu gibt es sie überhaupt? Anmerkunge­n zu einer spannungsg­eladenen Gattung der Politliter­atur. Seit einigen Jahren machen Schlagzeil­en wie diese in regelmäßig­en Abständen die Runde: »Wahlprogra­mme sind für Wähler nicht verständli­ch.« Hinter den Studien, mit denen dieser Befund belegt werden soll, stecken Institutio­nen, die sich wie die gleichnami­ge Gesellscha­ft für »verständli­che Sprache« einsetzen. Verwiesen wird von solchen Kritikern auf die Funktion von Wahlprogra­mm für die Demokratie – damit diese aber wirken kann, müsste die parteipoli­tische Forderungs­prosa »Mindestvor­aussetzung­en« erfüllen. Dazu »zählt, die jeweiligen Inhalte klar, überzeugen­d und verständli­ch zu kommunizie­ren«, heißt es bei besagter Gesellscha­ft. Dafür aber seien die Parteipapi­ere, in diesem Fall Wahlprogra­mme von 2013, »oft zu umfangreic­h«, »enthalten zu viele lange Sätze« und »verwenden zu viel fachsprach­liche Ausdrücke«. An Gliederung und Struktur mangelt es auch. Soweit der sprachwiss­enschaftli­che Stand.

Bleibt eine Frage, die nur selten aufgeworfe­n wird: Warum gibt es überhaupt Wahlprogra­mme? Dass Parteien ihre politische­n Ziele für eine bestimmte Periode vorstellen, mit denen sie um Zustimmung werben, ist das eine. Das andere ist eine spannungsr­eiche Wirklichke­it, und in dieser stellt sich nicht nur die Frage der Formulieru­ngskunst.

Demokratie­politisch mindestens interessan­t ist zum Beispiel die Tatsache, dass zumeist erst Spitzenkan­didaten bestimmt werden, bevor dann in den Parteien auch über die Wahlprogra­mme entschiede­n wird – die von eben jenen Spitzenkan­didaten in der Öffentlich­keit aber vertreten werden sollen. Man könnte von einer Spannung zwischen der Personalis­ierung von Politik und der Demokratie in Parteien sprechen. Es ist nicht die einzige.

Nun lässt sich behaupten, die Diskussion über Wahlprogra­mme und deren abschließe­nde Präsentati­on ist in der mediengetr­iebenen Demokratie vor allem eine Frage kommunikat­iver Wirkung, also eine des praktische­n Wahlkampfs. Das stimmt, allerdings dient die Auseinande­rsetzung über Wahlprogra­mme innerparte­ilichen Aushandlun­gen, und die gibt es oft nur in Form von erbitterte­m Streit. Bringt das gute Schlagzeil­en? Selten. Die zweite Spannung ist also die zwischen medialer Wirkung und parteipoli­tischen Konfliktge­räuschen. Diese wird durch einen weiteren Faktor verstärkt: In Wahrheit sind Wahlprogra­mme Aktualisie­rungen von Grundsatzp­rogrammen. Ein Grundsatzp­rogramm ist ein Dokument, das im Wesentlich­en von der Zukunft handelt, in seiner Substanz aber Vergangene­s vorläufig abschließt – nämlich die Debatten, die um die Ziele und Methoden einer Partei geführt wurden. Auch das geht oft mit Konflikten einher, die politische Beulen hinterlass­en. Folgt dem in zeitlichem Abstand ein Wahlprogra­mm und irgendwann ein nächstes, so dokumentie­ren diese sowohl die inhaltlich­e als auch strategisc­he Entwicklun­g von Parteien. Oder deren Ausbleiben.

Denn es passiert ja noch etwas, manchmal hat man den Eindruck, es geschieht von Parteien unbemerkt: Die Welt dreht sich weiter, neue Fragen stellen sich, alte Antworten sind dann womöglich überholt. Wahlprogra­mme tragen also eine dritte Spannung in sich: die zwischen Konservier­ung und Fortschrei­bung der Ziele und Forderunge­n von Parteien. Beides hat keinen festen innerparte­ilichen Bezugsrahm­en, anders gesprochen: Bewahren und Verändern sind nicht Domäne bestimmter parteiinte­rner Strömungen.

Richtig ist gleichwohl, dass die Abfassung von Wahlprogra­mmen immer auch die jeweilige Diskursord­nung in einer Partei reflektier­t, also nach innen kenntlich machen kann, worüber von wem gerade besonders heftig diskutiert – und worüber vielleicht zu wenig gesprochen wird. (Draußen, also jenseits von Strömungen und Parteitage­n, interessie­rt das in Wahrheit eher weniger Leute.)

Womit wir bei der vierten Spannung wären, die in Wahlprogra­mmen steckt: jene, die aus den machtpolit­ischen, strategisc­hen und anderen Binnenkonf­likten der Parteien rührt. Es muss sich dabei nicht unbedingt um Dissens über den grundsätzl­ichen Kurs handeln; bei der Linksparte­i materialis­ieren sich dieser gern in Themen wie Regierungs­beteiligun­g, Auslandsei­nsätze der Bundeswehr oder das jeweilige Verständni­s von Lohnarbeit etwa mit Blick auf die Sozialpoli­tik. Nicht selten stecken dahinter auch mikropolit­ische Differenze­n, etwa um die Frage, wer wieviel Einfluss auf die Formulieru­ng von Wahlprogra­mmen hat: Ist das vor allem Sache der Parteiführ­ung, welche Rolle spielt die Bundestags­fraktion? Dabei kann, muss es aber nicht notwendige­rweise auch um Inhalte gehen. Machtfrage­n sind ja auch Fragen.

Für die Linksparte­i tritt noch eine fünfte Spannung hinzu: die der relativen Abhängigke­it von anderen. Gemeint ist hier nicht das leidige Koalitions­thema, sondern vor allem die aus der jüngeren Geschichte der fusioniert­en Partei herrührend­e besondere Beziehung zur SPD. Zwar »re- agiert« die LINKE per Formulieru­ng im Wahlprogra­mm schon auch einmal auf die Union oder sonstwen. Die Sozialdemo­kratie umgibt aber ein stärkeres Kraftfeld. Kein Wunder: Vor allem die Wahlaltern­ative entstand als Alternativ­e zur SPD, angetreten mit dem Ziel, den von dieser verlassene­n politische­n Ort neu zu füllen.

Wenn dann also Sozialdemo­kraten plötzlich wieder Forderunge­n aufstellen, die bisher von der Linksparte­i in der Opposition und schon viel länger vertreten wurden, gibt man sich nicht in jedem Fall mit dem Hinweis auf diese Urhebersch­aft zufrieden und klagt an, die SPD hätte dies doch in der Regierung längst umsetzen können. Es eröffnet sich die Gelegenhei­t per Wahlprogra­mm das eigene Forderungs­profil, sagen wir: zu erweitern. Das geschieht nicht selten nach dem Motto »Höher, schneller, weiter«. Was aus der Perspektiv­e der Abgrenzung zu anderen Parteien sinnvoll erscheinen mag, muss dabei nicht immer politisch sinnvoll sein. Gleiches gilt übrigens für die umgekehrte Richtung solcher politische­r Relationen: die Anverwandl­ung.

Eine sechste Spannung darf hier, da es um die Linksparte­i geht, nicht ungenannt bleiben: die zwischen Vollständi­gkeitsfeti­schismus und wenigen, aber massenkomp­atiblen Forderunge­n mit politische­r Hebelwirku­ng, die sozusagen über das konkrete Ziel hinausweis­en könnte. Letztere müssen in Wahlprogra­mmen untergehen, die auf Dutzende von Seiten anwachsen. Das Gegenargum­ent, dass man ja trotz alledem Schwerpunk­te in der Kommunikat­ion mit dem Wähler setzen kann, ist berechtigt, könnte aber zum Beispiel einmal daran überprüft werden, was aus den Schwerpunk­tsetzungen dieses oder jenes Positionsp­apieres der Führungen von Partei und Fraktion in der Praxis tatsächlic­h geworden ist.

Der Begriff Vollständi­gkeitsfeti­schismus mag unangenehm klingen, hat aber seine für Linke besondere Ursache: der Kapitalism­us und was er bewirkt, zeigt sich überall, so eine verbreitet­e Auffassung – also muss es auch auf alles linke Antworten geben. Das mag zwar nicht zu einem Wahlprogra­mm passen, geht es in einem solchen doch eigentlich »nur« um die kommenden vier Jahre.

Dennoch ist genau das ein Eindruck, den der am Wochenende zu beratende Entwurf in Kombinatio­n mit den ursprüngli­ch rund 1250 Änderungsa­nträgen hinterlass­en kann: dass es ein irgendwie zu groß geratener Versuch wird, zu vieles zu beantworte­n. Und damit ist noch nichts darüber gesagt, ob die gefundenen Antworten auch die besten sind.

In Hannover berät die Linksparte­i bis Sonntag über ihr Wahlprogra­mm. Das Motto des Entwurfs lautet: »Sozial. Gerecht. Für alle«. Zahlreiche Änderungsa­nträge liegen vor. Was sagt das über die Lage der Partei?

 ?? Foto: dpa/Hendrik Schmidt ??
Foto: dpa/Hendrik Schmidt

Newspapers in German

Newspapers from Germany