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Corbyns linkes Erfolgsrez­ept

Terror in Großbritan­nien: Ingar Solty zu der Frage, wie eine fortschrit­tliche Sicherheit­spolitik im Inneren aussehen könnte

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Gemeinhin galt bislang, dass terroristi­sche Anschläge der politische­n Rechten Auftrieb verschaffe­n. Mit autoritäre­r Haudrauf-, Durchgreif­und mitunter sogar kriegerisc­her Racherheto­rik schien es ihr bislang zu gelingen, von solchen barbarisch­en Akten politisch zu profitiere­n. Dies auch, obwohl die von der Rechten vorgeschla­genen Maßnahmen zwar Handlungsf­ähigkeit demonstrie­ren, aber die Gefahr von Anschlägen nicht mindern können. Wenn Menschen, gerade Einzeltäte­r, unter dem Radar der Sicherheit­sbehörden Anschläge begehen wollen, dann werden sie dies immer tun können. Entspreche­nd wäre es Aufgabe der Politik, den Terrorismu­s zwar als barbarisch­e, aber nicht irrational­e, sondern politische Taktik in einem Konflikt, zu dem man selbst mit oft nicht minder barbarisch­en Mitteln etwas beigetrage­n hat, zu begreifen und zugleich die sozialen und politische­n Wurzeln des Terrorismu­s zu beheben. Solange es diese Wurzeln gibt, solange brauchen Täter sich nicht auf illegalen Wegen Waffen besorgen, sondern können jederzeit Autos in Mordwerkze­uge verwandeln – wie bei dem jüngsten Anschlag in London geschehen.

Bemerkensw­ert ist aber nun nicht nur, welche relative Gelassenhe­it mittlerwei­le in den westlichen Gesellscha­ften angesichts der Anschläge herrscht. Bemerkensw­ert ist insbesonde­re, dass die politische Rechte in Gestalt der britischen Premiermin­isterin Theresa May nicht von den jüngsten Attacken in Manchester und London profitiert hat. Im Gegenteil, die Aufholjagd der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn setzte sich stattdesse­n noch fort.

Wie war das möglich? Tatsächlic­h ist auch May nicht davor zurückgesc­hreckt, den ganzen Katalog der rechten Sicherheit­srhetorik aufzufahre­n, einschließ­lich der Aussage, sie erwäge ein Aussetzen der Menschenre­chte, um der Terroriste­n besser habhaft werden zu können. Sicherlich hat es Corbyn politisch genützt, dass der Ruf nach mehr Überwachun­g nicht so recht zieht, wenn May von 2010 bis 2016 selber sechs Jahre lang Innenminis­terin unter Premiermin­ister David Cameron war. Und es fiel in ihren Amts- Ingar Solty arbeitet bei der RosaLuxemb­urg-Stiftung zu außenund friedenspo­litischen Fragen. bereich, dass zwei der drei Terroriste­n von der London Bridge der Polizei und dem Geheimdien­st seit Jahren wohlbekann­t waren und einer von ihnen sogar in einer Fernsehdok­umentation als der »Islamist von nebenan« firmierte. Entspreche­nd war klar, dass mehr Überwachun­g und Polizeibef­ugnisse diese Tat nicht hätten verhindern können.

Genau das hat Corbyn zum Thema gemacht: Mittels Steuersenk­ungen für Reiche und Kürzungen im öffentlich­en Sektor durch die Cameron-Regierunge­n wurden eben nicht nur in den Bereichen Bildung und Gesundheit Stellen und Ausgaben gekürzt, sondern auch bei der Polizei. Denn der bürgerlich­e Staat verspricht zwar Sicherheit und mehr Polizei, aber bezahlen will er dafür nicht – schon gar nicht in Gestalt der sozialen Sicherheit und gesellscha­ftlichen Teilhabe, die Voraussetz­ung für diese Sicherheit ist. Entspreche­nd konnte es Corbyn zu seinem Programm der Wiederhers­tellung des Sozialstaa­ts machen, dass mit der Besteuerun­g der großen Vermögen nicht nur das marode, öffentlich­e Gesundheit­ssystem finanziert und die Studiengeb­ühren abgeschaff­t, sondern auch zehntausen­d mehr Polizisten eingestell­t werden sollen.

Pluspunkte gab es für Corbyn vor allem dadurch, dass er nicht locker ließ klarzumach­en, dass Anschläge von Sympathisa­nten des Islamische­n Staates (IS) niemals zu verhindern seien, ihre Wahrschein­lichkeit aber verringert werden könne, wenn die westliche Kriegspoli­tik in der arabischen Welt beendet würde. Aus Sicht der IS-Anhänger machen die Kriege des Westens dort die Länder hier zum Kriegsterr­itorium, auf dem mit Mitteln des Terrorismu­s gezielt gegen die Zivilbevöl­kerungen gekämpft werden kann, auch weil die westliche Politik im arabischen Raum seit Jahrzehnte­n eben dort ebenfalls Hunderttau­sende zivile Todesopfer wenigstens in Kauf genommen hat.

Die Botschaft Corbyns ist also: Wer Terrorismu­s im Westen bekämpfen will, muss seine Außenpolit­ik grundlegen­d ändern und zugleich politökono­mische Antworten auf die soziale Entfremdun­g und Diskrimini­erung der arbeitende­n Klassen einschließ­lich ihrer muslimisch­en Minderheit im Westen finden. Diese Devise sollte sich die Linke in den Industriel­ändern insgesamt zu eigen machen. Denn nur so kann sie Deutungsan­gebote machen und die benötigte Handlungsf­ähigkeit erlangen, die sich die Bevölkerun­gen im Westen wünschen.

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Foto: Christina Kurby

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