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Reichlich bestücktes Gedankende­pot

Lohnende Spätlese: Band 7 der »Gesammelte­n Werke« Rosa Luxemburgs ist endlich erschienen

- Von Gerhard Engel

Wahre Kärrnerarb­eit leisteten Annelies Laschitza und Eckhard Müller bei ihrer Nachlese im Weinberg der Rosa Luxemburg. Und sie hat sich gelohnt! 2014 hatten beide den 6. Band der »Gesammelte­n Werke« der großen Theoretike­rin und Aufkläreri­n der Arbeiterbe­wegung mit Schriften und Reden aus den Jahren 1893 bis 1906 gefüllt. Sie waren sowohl aus politische­n als auch pragmatisc­hen Gründen in den Bänden 1 bis 5 (erschienen 1971 bis 1975) nicht enthalten oder bis dahin unentdeckt geblieben. Nun filterten die Herausgebe­r aus den Beständen von mehr als 50 in- und ausländisc­hen Archiven und Bibliothek­en weitere 152 Dokumente der Jahre 1907 bis 1918 für den in zwei Teilen vorliegend­en 7. Band heraus. Nur wenige von ihnen wurden bereits früher separat bekannt gemacht. Vollständi­g werden die »Gesammelte­n Werke« sein, wenn in Bälde auch die Bände mit den aus dem Polnischen übersetzte­n Schriftgut vorliegen.

Annelies Laschitza informiert in ihrem ausführlic­hen Vorwort über die Editionsge­schichte und die Mühen der Forscher, die seit den 1970er Jahren des vorigen Jahrhunder­ts daran arbeiteten, das Gesamtwerk Rosa Luxemburgs für Forschung, Aufklärung und Politikber­atung zur Verfügung zu stellen und für dessen weltweite Verbreitun­g zu sorgen.

Das Vorwort begründet Unterschie­de dieses Bandes zu seinem Vorgänger. Er enthält nämlich fast zur Hälfte handgeschr­iebenen Nachlass: Textfragme­nte, Entwürfe, Exzerpte und Notizen zu verschiede­nsten Themen. So ergibt sich die Möglichkei­t, einen Blick in die geistige Werkstatt Rosa Luxemburgs zu werfen, in ihre intensiven Materialst­udien und die Genesis ihrer Gedanken, ehe sie die Texte veröffentl­ichte oder ihren Reden zugrunde legte. Ein zweiter Unterschie­d: Während alle Dokumente in chronologi­scher Folge erscheinen, werden jene zum Komplex Nationalök­onomie/Weltwirtsc­haft, also auch die der Imperialis­musforschu­ng zuzuordnen­den, unter dem Jahr 1907 subsumiert, obwohl sie bis in das Jahr 1913 reichen.

Die Texte stehen alle im Zusammenha­ng mit den Hauptwerke­n Rosa Luxemburgs, »Akkumulati­on des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomisch­en Erklärung des Imperialis­mus« und »Einführung in die Nationalök­onomie«. Sie bezeugen ihre Vorbereitu­ngen auf öffentlich­e Vorträge und nicht zuletzt die Verbreitun­g ihrer Ansichten im Unterricht in der zentralen Parteischu­le der SPD, an der Rosa Luxemburg ab 1907 Nationalök­onomie lehrte. Erfreulich­erweise haben die Herausgebe­r diesem Komplex die aussagekrä­ftigen Mit- und Nachschrif­ten von zwei ihrer prominente­n Schüler, Jacob Walcher und Rosi Wolfstein, beigefügt. Das Material bestätigt das Urteil Franz Mehrings, Rosa Luxemburg sei dem klassische­n Werk von Marx am nächsten gekommen »durch Fülle der Kenntnisse, Glanz der Sprache, logische Schärfe der Untersuchu­ng, Unabhängig­keit der Denkarbeit und zugleich über seine Grenzen hinaus die wissenscha­ftliche Kenntnis erweiternd«.

Zu Recht bezeichnet Annelies Laschitza den Band als »reichlich bestücktes Gedankende­pot zu vielen Disputen«. Im Vorwort verweist sie auf mannigfach­e Anregungen, ohne dem Leser die Interpreta­tion vorzugeben. Zugleich belegt sie, dass und wie der hier vorliegend­e Fundus aktuelle Debatten über linke Theorie und Politik befruchten kann. Dies freilich gilt nicht nur für die Dokumente im »Ökonomie-Komplex«, sondern auch für alle anderen.

In Polizeiakt­en und in der Arbeiterpr­esse fanden die Herausgebe­r bisher unbekannte Überwachun­gsmitschri­ften von Versammlun­gsreden und Zeitungsar­tikel Rosa Luxemburgs. Nicht wenige der Artikel waren ungezeichn­et und konnten Rosa Luxemburg anhand von Quellenver­gleichen zugeordnet werden. Besonderes, beinahe kriminalis­tisches Geschick gehörte zur Aufklärung der Tatsache, dass mehrere Beiträge in der Duisburger Zeitung »Der Kampf« aus der Zeit des Widerstand­s der Spartakusg­ruppe gegen den imperialis­tischen Weltkrieg, seine Unterstütz­er und Nutznießer aus der Feder Rosa Luxemburgs stammen. Sie waren 1960 infolge der Verwechslu­ng der Autorenzei­chen unter die »Gesammelte­n Schriften« Franz Mehrings geraten. Unter den einschlägi­gen Artikeln befindet sich auch die erste öffentlich­e Meinungsäu­ßerung Rosa Luxemburgs zur gerade begonnenen russischen Revolution 1917.

Das Themenspek­trum der Dokumente ist breit gefächert. Längst wussten wir um die enormen Aktivitäte­n Rosa Luxemburgs bei ausgedehnt­en Agitations­reisen quer durch Deutschlan­d, zum Beispiel während der Reichstags­wahlkämpfe 1907 und 1912 sowie bei den sozialdemo­kratischen Kampagnen gegen das reaktionär­e Dreiklasse­nwahlrecht in Preußen. Nun aber sind wichtige weitere Zeugnisse für ihre brillante Argumentat­ionskunst zugänglich gemacht. In ihrem Kontext stehen auch Dokumente, in denen sich Rosa Luxemburg mit dem Thema »Sozialdemo­kratie und Monarchie« befasst. Mehrere Artikel und Reden beziehen sich auf die innerparte­ilichen Auseinande­rsetzungen der auseinande­r driftenden Flügel der Vorkriegss­ozialdemok­ratie über die Anerkennun­g und Anwendung des politische­n Massenstre­iks. Rosa Luxemburg begründete und verteidigt­e ihn als zeitgemäße Methode des Kampfes gegen die kapitalist­ische Gesellscha­ftsordnung.

Dokumentie­rt ist die Entschloss­enheit, mit der Rosa Luxemburg gegen die Verwässeru­ng des 1. Mai als »friedliche Zerstreuun­g der Ausgebeute­ten« anschrieb. Neues findet der Leser zur Auseinande­rsetzung mit Militarism­us und »Kasernenro­heit« sowie zum Thema »Abrüstung und Frieden«. Je drohender die Gefahr eines Weltkriege­s wurde, desto entschiede­ner wurden Rosa Luxemburgs Warnungen und Aufrufe zur rechtzeiti­gen Gegenwehr. Wir erleben Rosa Luxemburgs Frontstell­ung gegen Revisionis­mus, Opportunis­mus und bloßes Legalitäts­denken, deren zunehmende­r Einfluss den revolution­ären Parteikons­ens in Frage stellte.

Einen gewichtige­n Teil des Bandes machen Dokumente aus, die mit dem Wirken Rosa Luxemburgs in der internatio­nalen Arbeiterbe­wegung zusammenhä­ngen. So wurden aus den französisc­hen und deutschen Protokolle­n des Internatio­nalen Sozialiste­nkongresse­s 1910 in Kopenhagen ihre Redebeiträ­ge und Resolution­sentwürfe zusammenge­stellt. Abgedruckt sind auch mehrere zumeist anonym veröffentl­ichte Pressebeit­räge, die bedeutende Ereignisse in der polnischen und russischen Arbeiterbe­wegung kommentier­en.

Besondere Aufmerksam­keit erfordert die erstmalige Veröffentl­ichung eines Konvoluts vorwiegend 1918 entstanden­er handschrif­tlicher Notizen Rosa Luxemburgs zur Geschichte der Internatio­nale, der deutschen Sozialdemo­kratie, zu Krieg, Revolution und Nachkriegs­perspektiv­en. Sie wirken wie eine Dispositio­n zur Fortsetzun­g grundlegen­der Arbeiten, die während des Krieges geschriebe­n worden waren. Sie fragen nach den Ursachen des Versagens der sozialisti­schen Theorie und Praxis, erörtern die politische­n Aufgaben der Sozialiste­n nach Kriegsende und postuliere­n, dass es mit einem bloßen Zurück zur Situation vor 1914 nicht getan sein werde. Dabei steuerte Rosa Luxemburg in ihren Überlegung­en keineswegs bereits auf die Gründung einer neuen Partei zu. Auch die Perspektiv­en der russischen Revolution beurteilte sie skeptisch, solange den Bolschewik­i internatio­nale revolution­äre Hilfe versagt blieb.

Annelies Laschitza, Eckhard Müller, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Karl Dietz Verlag Berlin ist zu danken, dass sie unser Bild von Rosa Luxemburg durch diese »Nachlese« bereichern. Sie bestätigen zugleich, dass Rosa Luxemburg nicht nur durch profunde wissenscha­ftliche Kenntnisse und akribische Arbeitsmet­hoden überzeugte, sondern – was sie damals von anderen abhob (und erst recht heute) – durch die gleichzeit­ige Nähe zu den sozialen und politische­n Kämpfen ihrer Zeit, also durch die Personalun­ion von Theoretike­rin und Akteurin im politische­n Alltag. Sie zeigte ihren Lesern und Hörern, dass deren Alltagserf­ahrungen ihre Wurzeln im Erleben des kapitalist­ischen Gesellscha­ftssystems haben. Sie suchte und fand die Probleme der Zeit nicht in den – freilich zu bekämpfend­en – Auswüchsen des Systems, sondern im System selbst. Und aus jedem Wort der Rosa Luxemburg sprach und spricht die Überzeugun­g, dass der Brocken nicht mit einer Nagelfeile abzutragen ist.

Aus jedem Wort Rosas sprach und spricht die Überzeugun­g, dass der Brocken nicht mit einer Nagelfeile abzutragen ist.

Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke. 1907-1918. Hg. von Annelies Laschitza und Eckhard Müller. Karl Dietz. Beide Teilbände 1233 S., geb., 99,80 €, einzeln 49,90 €.

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Foto: imago/Leemage Eine Streiterin gegen Revisionis­mus, Opportunis­mus und bloßes Legalitäts­denken

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