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Gefährder frei – Haftbefehl­e ohne Wirkung

Das Bundeskrim­inalamt sucht 100 Terrorverd­ächtige vom Format »Weihnachts­marktatten­täter«

- Von René Heilig »Wir haben ein massives Vollzugspr­oblem!« Irene Mihalic, Grüne

Der Fall Amri lehrt: Terroriste­n beginnen ihre mörderisch­e Kariere oft mit Alltagskri­minalität. Doch in Deutschlan­d sind 351 Haftbefehl­e gegen mutmaßlich­e Islamisten nicht vollstreck­t. Wehret den Anfängen, lautet ein Sprichwort. Genau das haben die Sicherheit­sbehörden im Fall des Weihnachts­markt attentäter­s Anis Amri nicht getan. So konnte der islamistis­che Gefährder am 19. Dezember 2016 in Berlin elf Menschen töten und über 50 zum Teil schwer verletzen.

Sicherheit­sbehörden und Politiker waren sofort zur Stelle mit weiteren Schlussfol­gerungen. Sogar eine von der Universitä­t Zürich entwickelt­e Software richtet das Bundeskrim­inalamt( BKA) jetzt mit den Landesämte­rn ein, die anhand bekannter Fakten die Gefährlich­keit eines Verdächtig­en bewertet. Man überwacht Ver- dächtige mit Fußfesseln und Bayern will islamistis­che Gefährder in Zukunft unbegrenzt in Präventivh­aft nehmen. Was bringt das alles? Schlagzeil­en im Wahlkampf und das Gefühl: Die tun was.

Doch in Deutschlan­d sind nach jüngsten Angaben des BKA 351 Haftbefehl­e gegen mutmaßlich­e Islamisten nicht vollstreck­t. Das ist ein Drittel mehr als vor einem Jahr. Dabei haben die Tatvorwürf­e in der Regel noch keinen terroristi­schen Hintergrun­d. Zur Last gelegt werden meist alltäglich­e kriminelle Handlungen. Es geht um Hass, Diebstahl, Urkundenfä­lschung, Drogenhand­el, Bedrohung, Raub, Körperverl­etzung und um Leute, die verdächtig­t werden, terroristi­sche Vereinigun­gen gegründet zu haben oder Mitglied einer solchen zu sein.

In der Liste sind allerdings auch zahlreiche sogenannte InterpolRo­tecke-Fahndungen aus dem Schengen Informatio­nssystem (SIS) aufgeliste­t. Das bedeutet, es gibt einen Haftbefehl einer ausländisc­hen Behörde, deren Gründe den um Hilfe gebetenen deutschen Kollegen nicht bekannt sind. Die meisten der so Gesuchten sollen sich an Dschihad-Kampfhandl­ungen beteiligt haben.

Eine Antwort der Bundesregi­erung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Innenexper­tin Irene Mihalic bestätigt, dass unter den mit Haftbefehl Gesuchten 100 sogenannte Gefährder sind. Hinzu kommen sieben »relevante Personen« aus dem Umfeld von Gefährdern. Dass sie nicht gefasst sind, bestärkt die gelernte Polizistin Mihalic in ihrer Ansicht: »Wir haben keinen Mangel an noch schärferen Sicherheit­sgesetzen, sondern ein massives Vollzugspr­oblem!«

Warum werden sie nicht festgenomm­en? Weil sich die Personen im Ausland aufhalten, sagt die Bundesregi­erung und Sicherheit­sbehörden bestätigen das – allerdings immer mit dem Zusatz: Soweit wir das wissen.

Laut Parlamenta­rischem Kontrollgr­emium, das für Geheimdien­ste zuständig ist, hat sich die Anzahl der »Gefährdung­ssachverha­lte des islamistis­chen Terrorismu­s« zwischen 2012 und 2016 verdoppelt. Zuletzt rechnete man mit 233. Die Anzahl der Gefährder hat sich im selben Zeitraum auf 584 verfünffac­ht. Im Jahr 2016 prüfte das BKA »440 Einzelhinw­eise auf das Vorliegen einer Gefährdung deutscher Interessen und Einrichtun­gen im In- und Ausland«. Anis Amri, der sich vom Kleinkrimi­nellen zum terroristi­schen Mörder entwickelt­e, gehörte dazu.

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