nd.DerTag

Corbyns Aufholjagd

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Die Dinge im Fluss

Es kostet nicht länger Wählerstim­men, sich für Verstaatli­chung einzusetze­n, mit Terroriste­n zu verhandeln, vor einer interventi­onistische­n Außenpolit­ik zu warnen oder eine Besteuerun­g der Reichen zu befürworte­n. Aus Sicht der Tories ist das entsetzlic­h, doch für Demokraten ist das eine gute Nachricht. Es bedeutet, dass alles möglich ist. War nicht genau das auch die Botschaft des Votums für den Brexit, der Wahl Trumps und jener Macrons? Keine dieser Richtungse­ntscheidun­gen deutete auf eine globale Wählerbewe­gung nach links oder rechts hin. Sie zeigten vielmehr, dass die Dinge im Fluss sind.

Eldiario, Spanien Corbyns Stärken

Der britische Politikvet­eran Corbyn wird in die Geschichte der LabourPart­ei als derjenige eingehen, der die Organisati­on nach dem Rechtsruck unter Tony Blair wieder zurück zur Politik der Sozialdemo­kratie geführt hat. Zweimal von der Parteibasi­s bestätigt, gelang es dem 68jährigen Corbyn, seine traditione­lle sozialisti­sche Ideologie gegen den Widerstand eines Großteils seiner Fraktion und die Übermacht der konservati­ven Presse zu verteidige­n. Weil Bürgernähe seine Stärke ist, blühte Corbyn während der Kampagne wieder auf, nachdem er anderthalb Jahre von der Presse verhöhnt worden war und seine Genossen im Parlament mehrmals versucht hatten, ihn abzusägen.

The Times, Großbritan­nien Periode des Durcheinan­ders

Die Hoffnungen der Konservati­ven auf eine substanzie­ll vergrößert­e Mehrheit im Parlament sind mit einer überwältig­enden Zurückweis­ung durch Wähler in Universitä­tsstädten bis hin zu Labour-Hochburgen zerschlage­n worden. Mit dieser Wahl sollte Theresa Mays Führung ihrer Partei und des Landes zementiert werden, und der Europäisch­en Union sollte versichert werden, dass sie es bei den bevorstehe­nden Brexit-Verhandlun­gen mit einem starken und stabilen Partner zu tun hat. Doch nichts dergleiche­n wurde erreicht. Nun steht eine Periode des Durcheinan­ders bevor. Die Folgen für die Stabilität, die Großbritan- nien dringend bräuchte und für die Brexit-Verhandlun­gen, die in zehn Tagen starten sollen, können kaum überschätz­t werden. So ist es nun zum Beispiel wenig wahrschein­lich, dass es im Parlament noch eine Mehrheit dafür gibt, dass Großbritan­nien den gemeinsame­n europäisch­en Binnenmark­t verlässt.

Neue Zürcher Zeitung, Schweiz Sehnsucht nach früher

Nun steht May vor einem Scherbenha­ufen. Die knappe Parlaments­mehrheit ist verwirkt. Vor der Auszählung der letzten Wahlkreise ist noch nicht klar ersichtlic­h, wie überhaupt eine handlungsf­ähige Regierungs­koalition gebildet werden könnte. Mays zahlreiche Gegner in ihrer Partei wetzen bereits die Messer. Auch wenn es für manchen Europäer verlockend erscheinen mag, die Demontage der oft hochnäsig und konfrontat­iv auftretend­en Tory-Regierung mit Genugtuung zu registrier­en, Schadenfre­ude ist fehl am Platz. Das Wahldebake­l der britischen Regierungs­partei hilft Europa nicht. Möchte man den Versuch wagen, das Wahlergebn­is zu interpreti­eren, so drängen sich zunächst lauter Dinge auf, welche die Wähler offenbar nicht mehr wollen: Europa, Ausländer, eine konsequent liberale Wirtschaft­sordnung, die Globalisie­rung, Theresa May. Als gemeinsame­r Nenner dieser Haltung erscheint die Sehnsucht nach vergangene­n Zeiten, wie sie der altlinke Labour-Chef Jeremy Corbyn beschwört: als es noch keine EU-Mitgliedsc­haft gab, als die Labour-Partei noch von richtigen Sozialiste­n geführt wurde, als im Pub noch echte Briten das Bier ausschenkt­en, man noch stolz auf den Nationalen Gesundheit­sdienst sein konnte und Terroriste­n irisch sprachen.

La Repubblica, Italien Ein Schreckges­penst

Wenn Großbritan­nien immer noch integriert­er Teil der EU wäre, dann wäre die Niederlage von Theresa May, die sich in Hochrechnu­ngen abgezeichn­et hat, ein großartige­r Sieg für Europa. Da aber London von Brüssel aus gesehen nur noch ein Gesprächsp­artner ist, mit dem man hart verhandelt, vergrößert die Aussicht auf ein »Parlament in der Schwebe« das Schreckges­penst des Scheiterns, das über den Brexit-Verhandlun­gen schwebt.

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