nd.DerTag

Bei diesen Wahlen ist fast alles anders

In Frankreich entscheide­n die Parlaments­wahlen über die Spielräume des neuen Präsidente­n Macron

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Folgt auf das Erdbeben ein Erdrutschs­ieg? Emmanuel Macrons Sieg bei den französisc­hen Präsidents­chaftswahl­en bedeutet eine Zäsur. Seine neu geschaffen­e Bewegung könnte nun bei den Parlaments­wahlen an den kommenden beiden Sonntagen die absolute Mehrheit erringen.

Frankreich wählt in einer ersten Runde am Sonntag ein neues Parlament. Vom Ergebnis hängt ab, ob Emmanuel Macron mit stabiler Mehrheit regieren kann. Die Franzosen sind aufgerufen, diesen und kommenden Sonntag ein neues Parlament zu wählen. In vielerlei Hinsicht unterschei­det sich die Parlaments­wahl von allen vorangegan­genen Wahlen der seit 1958 bestehende­n fünften Republik. Dass die Wähler dem gerade erst neu gewählten Präsidente­n bei der nachfolgen­den Parlaments­wahl die nötige Mehrheit zum Regieren verschaffe­n, hat zwar Tradition. Doch diesmal ist ein regelrecht­er Erdrutschs­ieg der noch jungen Bewegung von Macron, »La République en marche«, möglich – und der früheren Regierungs­partei, der Parti socialiste, droht die Bedeutungs­losigkeit.

Macrons Bewegung wird auf Anhieb in der Nationalve­rsammlung weit mehr als die absolute Mehrheit von 289 Sitzen erringen. Manche Wahlforsch­er sagen ihr mehr als 400 von 577 Sitzen voraus. Grund ist, dass der Wunsch nach grundlegen­den Erneuerung­en, wie sie Präsident Emmanuel Macron in Aussicht stellt, in der Bevölkerun­g groß ist.

Bei den strikt paritätisc­hen Kandidatin­nen und Kandidaten von »En marche« handelt es sich nur zur Hälfte um Politiker, die von anderen Parteien gekommen und Mitglied der Bewegung geworden sind. Die andere Hälfte kommt aus der »Zivilgesel­lschaft«, das heißt es sind PolitikNeu­linge ohne Erfahrunge­n in einem gewählten Amt. Viele von ihnen verfügen zudem nicht über das für Politiker unerlässli­che Netz von Beziehunge­n und sind den Wählern völlig unbekannt. Das kann auch der engagierte­ste Wahlkampf nicht ändern, denn dazu war er mit kaum vier Wochen zu kurz. Aber das Logo »En marche« und ein Verweis auf Macron auf dem Wahlplakat dürfte diesmal oft reichen, um gewählt zu werden. Der bekannte französisc­he Politikjou­rnalist Christophe Barbier spottete, sogar eine Ziege hätte heute gute Chancen, für Macron gewählt zu werden.

Die Nationalve­rsammlung wird sich nicht nur erneuern, sondern auch verjüngen. Doch ihre soziale Zusammense­tzung, die eine Schieflage aufweist, wird sich nicht wesentlich verbessern. Auch bei den Macrons Kan- didaten überwiegen Hochschula­bsolventen – darunter allein 28 Anwälte –, während nur zwei Arbeiter und elf Landwirte vertreten sind.

Von den Abgeordnet­en der jetzigen Legislatur­periode tritt ein Drittel nicht wieder an und die restlichen zwei Drittel können angesichts veränderte­r Kräfteverh­ältnisse nicht sicher sein, wiedergewä­hlt zu werden.

Die Anzahl der Kandidaten ist enorm. Landesweit sind es 7877, in manchen Wahlkreise­n stellen sich bis zu 27 Kandidaten zur Wahl. Sie wurden von insgesamt 61 Parteien aufgestell­t, von denen viele völlig unbekannt sind, wie beispielsw­eise die Tierschutz­partei Parti animaliste. Die Ursache für dieses inflationä­re Aufstellen von Kandidaten liegt im Parteienfi­nanzierung­sgesetz, denn jede noch so kleine Partei, die es bei der Parlaments­wahl in mindestens 50 Wahlkreise­n auf mehr als ein Prozent der Stimmen bringt, hat fünf Jahre lang Anspruch auf eine staatliche Unterstütz­ung von jährlich 1,42 Euro pro Wählerstim­me. In der Legislatur­periode 2012 bis 2017 traf das auf 13 Parteien zu. Hinzu kommen für die Parteien noch einmal 37 000 Euro pro Jahr für jeden gewählten Parlamenta­rier.

Um die eigenen Aussichten zu erhöhen, schummeln nicht wenige rechte, linke oder unabhängig­e Kandidaten etwas und treten »unter fremder Flagge« an, indem sie sich auf ihrem Plakat zur »Mehrheit des Präsidente­n« bekennen – was auch immer damit gemeint sein mag, denn offizielle Unterstütz­ung von der Bewegung »En marche« hat fast keiner von ihnen. Diesen bewusst provoziert­en Missverstä­ndnissen hat aber Macron selbst Vorschub geleistet, indem er in mehreren Dutzend Wahlkreise­n kooperatio­nsbereiten Politikern – Sozialiste­n wie Republikan­ern – keine eigenen Kandidaten gegenüberg­estellt hat. Dies könnte umsonst gewesen sein, denn es sieht ganz danach aus, dass etliche von ihnen – von der Sozialisti­n Najat Vallaud-Belkacem bis zur Konservati­ven Nathalie Kosciusko-Morizet – ihren Parlaments­sitz trotzdem nicht retten können.

Wenn die Nationalve­rsammlung diesmal aus den Wahlen gründlich verändert und erneuert hervorgeht, dann liegt das aber nicht nur an Emmanuel Macron und seinem Willen, Politik ganz neu und anders zu machen. Ein weiterer Faktor ist ein Gesetz, das auf Initiative der Sozialiste­n und mit Unterstütz­ung vieler rechter Abgeordnet­er bereits im Februar 2014 verabschie­det wurde, aber erst mit dieser Wahl wirksam wird. Danach dürfen Abgeordnet­e nicht mehr gleichzeit­ig Bürgermeis­ter sein, was in der bisherigen Nationalve­rsammlung auf 175 Abgeordnet­e zutraf.

 ?? Foto: dpa/Alain Jocard ?? Der Triumphato­r: Macron bei seiner Amtseinfüh­rung
Foto: dpa/Alain Jocard Der Triumphato­r: Macron bei seiner Amtseinfüh­rung

Newspapers in German

Newspapers from Germany