Bei diesen Wahlen ist fast alles anders
In Frankreich entscheiden die Parlamentswahlen über die Spielräume des neuen Präsidenten Macron
Folgt auf das Erdbeben ein Erdrutschsieg? Emmanuel Macrons Sieg bei den französischen Präsidentschaftswahlen bedeutet eine Zäsur. Seine neu geschaffene Bewegung könnte nun bei den Parlamentswahlen an den kommenden beiden Sonntagen die absolute Mehrheit erringen.
Frankreich wählt in einer ersten Runde am Sonntag ein neues Parlament. Vom Ergebnis hängt ab, ob Emmanuel Macron mit stabiler Mehrheit regieren kann. Die Franzosen sind aufgerufen, diesen und kommenden Sonntag ein neues Parlament zu wählen. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich die Parlamentswahl von allen vorangegangenen Wahlen der seit 1958 bestehenden fünften Republik. Dass die Wähler dem gerade erst neu gewählten Präsidenten bei der nachfolgenden Parlamentswahl die nötige Mehrheit zum Regieren verschaffen, hat zwar Tradition. Doch diesmal ist ein regelrechter Erdrutschsieg der noch jungen Bewegung von Macron, »La République en marche«, möglich – und der früheren Regierungspartei, der Parti socialiste, droht die Bedeutungslosigkeit.
Macrons Bewegung wird auf Anhieb in der Nationalversammlung weit mehr als die absolute Mehrheit von 289 Sitzen erringen. Manche Wahlforscher sagen ihr mehr als 400 von 577 Sitzen voraus. Grund ist, dass der Wunsch nach grundlegenden Erneuerungen, wie sie Präsident Emmanuel Macron in Aussicht stellt, in der Bevölkerung groß ist.
Bei den strikt paritätischen Kandidatinnen und Kandidaten von »En marche« handelt es sich nur zur Hälfte um Politiker, die von anderen Parteien gekommen und Mitglied der Bewegung geworden sind. Die andere Hälfte kommt aus der »Zivilgesellschaft«, das heißt es sind PolitikNeulinge ohne Erfahrungen in einem gewählten Amt. Viele von ihnen verfügen zudem nicht über das für Politiker unerlässliche Netz von Beziehungen und sind den Wählern völlig unbekannt. Das kann auch der engagierteste Wahlkampf nicht ändern, denn dazu war er mit kaum vier Wochen zu kurz. Aber das Logo »En marche« und ein Verweis auf Macron auf dem Wahlplakat dürfte diesmal oft reichen, um gewählt zu werden. Der bekannte französische Politikjournalist Christophe Barbier spottete, sogar eine Ziege hätte heute gute Chancen, für Macron gewählt zu werden.
Die Nationalversammlung wird sich nicht nur erneuern, sondern auch verjüngen. Doch ihre soziale Zusammensetzung, die eine Schieflage aufweist, wird sich nicht wesentlich verbessern. Auch bei den Macrons Kan- didaten überwiegen Hochschulabsolventen – darunter allein 28 Anwälte –, während nur zwei Arbeiter und elf Landwirte vertreten sind.
Von den Abgeordneten der jetzigen Legislaturperiode tritt ein Drittel nicht wieder an und die restlichen zwei Drittel können angesichts veränderter Kräfteverhältnisse nicht sicher sein, wiedergewählt zu werden.
Die Anzahl der Kandidaten ist enorm. Landesweit sind es 7877, in manchen Wahlkreisen stellen sich bis zu 27 Kandidaten zur Wahl. Sie wurden von insgesamt 61 Parteien aufgestellt, von denen viele völlig unbekannt sind, wie beispielsweise die Tierschutzpartei Parti animaliste. Die Ursache für dieses inflationäre Aufstellen von Kandidaten liegt im Parteienfinanzierungsgesetz, denn jede noch so kleine Partei, die es bei der Parlamentswahl in mindestens 50 Wahlkreisen auf mehr als ein Prozent der Stimmen bringt, hat fünf Jahre lang Anspruch auf eine staatliche Unterstützung von jährlich 1,42 Euro pro Wählerstimme. In der Legislaturperiode 2012 bis 2017 traf das auf 13 Parteien zu. Hinzu kommen für die Parteien noch einmal 37 000 Euro pro Jahr für jeden gewählten Parlamentarier.
Um die eigenen Aussichten zu erhöhen, schummeln nicht wenige rechte, linke oder unabhängige Kandidaten etwas und treten »unter fremder Flagge« an, indem sie sich auf ihrem Plakat zur »Mehrheit des Präsidenten« bekennen – was auch immer damit gemeint sein mag, denn offizielle Unterstützung von der Bewegung »En marche« hat fast keiner von ihnen. Diesen bewusst provozierten Missverständnissen hat aber Macron selbst Vorschub geleistet, indem er in mehreren Dutzend Wahlkreisen kooperationsbereiten Politikern – Sozialisten wie Republikanern – keine eigenen Kandidaten gegenübergestellt hat. Dies könnte umsonst gewesen sein, denn es sieht ganz danach aus, dass etliche von ihnen – von der Sozialistin Najat Vallaud-Belkacem bis zur Konservativen Nathalie Kosciusko-Morizet – ihren Parlamentssitz trotzdem nicht retten können.
Wenn die Nationalversammlung diesmal aus den Wahlen gründlich verändert und erneuert hervorgeht, dann liegt das aber nicht nur an Emmanuel Macron und seinem Willen, Politik ganz neu und anders zu machen. Ein weiterer Faktor ist ein Gesetz, das auf Initiative der Sozialisten und mit Unterstützung vieler rechter Abgeordneter bereits im Februar 2014 verabschiedet wurde, aber erst mit dieser Wahl wirksam wird. Danach dürfen Abgeordnete nicht mehr gleichzeitig Bürgermeister sein, was in der bisherigen Nationalversammlung auf 175 Abgeordnete zutraf.