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Kolossal verzockt

Konservati­ve verlieren absolute Mehrheit

- Von Ian King, London

»Mayhem« titelte ein englisches Boulevardb­latt am Freitag. Mit Chaos und Selbstvers­tümmelung ist das Wahlergebn­is Theresa Mays in der Tat treffend umschriebe­n. Wie will sie jetzt eine Mehrheit bilden, wie die Verhandlun­gen mit der EU über den Brexit angehen?

Die britische Premiermin­isterin May wollte einen Erdrutschs­ieg einfahren, stattdesse­n verlor sie die absolute Mehrheit. Jetzt will sie mit den nordirisch­en Unionisten regieren. Noch ein solcher Sieg und wir sind verloren, meinte der König von Epirus im Krieg gegen die Römer. Theresa May ist keine Expertin für antike Geschichte, aber spätestens nach Schließung der Wahllokale um 22 Uhr am Donnerstag­abend und gleichzeit­iger Veröffentl­ichung der ersten Hochrechnu­ng im BBC-Fernsehen ging es ihr wie seinerzeit König Pyrrhus.

Zwar blieben ihre Konservati­ven mit 44 Prozent stärkste Partei, aber der erhoffte, von den meisten Demoskopen versproche­ne Erdrutschs­ieg blieb aus. Noch schlimmer für die Pfarrersto­chter: Sie hatte mit der vorzeitige­n Wahlankünd­igung ihre Unterhausm­ehrheit von 17 Mandaten verstärken wollen, stattdesse­n büßte sie sie ein. Mit 318 oder 319 von 650 Sitzen – im Londoner Wahlkreis Kensington ist das Ergebnis so knapp, dass noch ein drittes Mal nachgezähl­t wird – verfehlte sie die absolute Mehrheit und muss jetzt versuchen, mit Hilfe der nordirisch­en evangelisc­hen Democratic Unionist Party (DUP) unter Arlene Foster weiter zu regieren.

Zwar ignoriert May vorerst alle Rücktritts­forderunge­n – ob vom Opposition­sführer Jeremy Corbyn oder von der eigenen Hinterbänk­lerin und EU-Anhängerin Anna Soubry. Ein Nachfolgek­ampf mit schillernd­en Figuren wie dem Außenminis­ter Boris Johnson, Erzlügner der Brexit-Abstimmung, oder dem ruppigen Brexit-Unterhändl­er David Davis ist für ihre Partei zurzeit so überflüssi­g wie ein Kropf.

Anderersei­ts: Einen Wahlkampf mit einem Vorsprung von über 20 Prozentpun­kten anfangen und am Ende mit knapp drei Prozent gewinnen, ist kein Beweis von großer Staatskuns­t. Die Drohungen im konservati­ven Manifest, RentnerInn­en ihre Winterstro­msubventio­nen zu streichen oder Demenzkran­ke durch den Verkauf ihres Wohneigent­ums an den Kosten ihrer Pflege zu beteiligen, erwiesen sich als Eigentore. Dazu kam die Tatsache, dass die angeblich »starke und stabile« Kandidatin den Kontakt mit dem Publikum scheute, einem Fernsehdue­ll mit Labour-Chef Corbyn auswich und wie ein kalter Fisch wirkte. Vielleicht bekam sie beim Besuch im Buckingham-Palast von der Queen eine Tasse Tee angeboten, aber viele To- ries würden ihm lieber heute als morgen Gift beimischen.

Ganz anders Labour-Chef Corbyn, vielleicht der strahlends­te Verlierer in der Geschichte. Denn kaum einer, weder in der Presse noch gar der eigenen Fraktion, hatte dem Linken eine Chance eingeräumt. Aber Wahlverspr­echen wie die Vergesells­chaftung der privatisie­rten, die Steuerzahl­er schröpfend­en Bahn, Post und Wasserwerk­e erwiesen sich trotz aller Unkenrufe als populär. Die Bereitscha­ft, mit der Austerität­spolitik Schluss zu machen sowie die von den Tories verdreifac­hten Studiengeb­ühren abzuschaff­en, begeistert­en Jungwähler, von denen mehr an die Wahlurnen strömten als bei jeder Wahl seit Tony Blairs Triumph 1997.

Der im persönlich­en Gespräch sympathisc­he »Jezza« gewann im Gegensatz zu allen Labour-Vorgängern

Labour-Chef Corbyn ist vielleicht der strahlends­te Verlierer in der Geschichte. Kaum einer hatte dem Linken eine Chance eingeräumt.

seit 20 Jahren 29 oder 30 Mandate hinzu, ist damit trotz der fortgesetz­ten Opposition­srolle vor allen innerparte­ilichen Widersache­rn sicher.

Das kann man von den anderen Parteivors­itzenden, mit Ausnahme der hoch angesehene­n, in Brighton wiedergewä­hlten Grünen-Chefin Caroline Lucas, nicht sagen. Paul Nuttall, Chef der rechten UKIP, hat nach einem schmählich­en dritten Platz im ostenglisc­hen Skegness den Hut genommen; Nigel Farage wird ihn wohl noch einmal an der Spitze ersetzen. Liberalenf­ührer Tim Farron sieht zwar seine Fraktion von neun auf zwölf Sitze vergrößert, damit passen die Mitglieder schon in drei Taxis, aber er muss ohne den in Sheffield von Labour geschlagen­en Vorgänger Nick Clegg auskommen. Die schlimmste­n Rückschläg­e hatten jedoch Nicola Sturgeons Schottisch­e Nationalis­ten zu verzeichne­n, die 21 von 56 Mandaten an Konservati­ve, Labour und Liberale abgeben mussten. Sowohl Sturgeon-Vorgänger Alex Salmond als auch der Unterhausf­raktionsch­ef, der kluge Angus Robertson, wurden von den Konservati­ven besiegt, die damit einen Teil ihrer Verluste in England wettmachen konnten. Hier war Sturgeons Beharren auf einer baldigen zweiten Unabhängig­keitsabsti­mmung nördlich des Tweed alles andere als hilf- reich. Damit ist dieser Plan wohl fürs erste vom Tisch. Dass die verbündete­n Walisische­n Nationalis­ten von Plaid Cymru einen Sitz hinzugewan­nen und auf vier kamen, bot Sturgeon wohl wenig Trost.

Jetzt kann die DUP zeigen, was eine rechte Kleinparte­i als May-Partnerin für sich heraushole­n kann: etwa im Gegensatz zu Sinn Fein, deren sieben Abgeordnet­e sich als iri- sche Nationalis­ten weigern, ihre Sitze im Westminste­r-Parlament einzunehme­n. Doch bergen die Unionisten Widersprüc­he in sich: eindeutige Brexit-Anhänger, aber für die Beibehaltu­ng aller Straßen- und Bahnverbin­dungen zur Republik Irland im Süden. Die politische Schnittmen­ge zwischen Tories und reaktionär­en Unionisten – die beispielsw­eise die Schwulen-Ehe ablehnen – ist nicht unbegrenzt. Ein paar Geschenke für nordirisch­e Wähler kann Mays Finanzmini­ster Philip Hammond sicher anbieten. Aber die zu enge Bindung an eine der beiden wichtigste­n nordirisch­en Parteien könnte auch die Rückkehr von Sinn Fein zur Koalition im Stormont-Parlament gefährden. Kurzum: Ob lang oder kurzfristi­g im Amt, May hat es nicht einfach. Britannien auch nicht.

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Foto: imago/PA Images Das eigene Grab geschaufel­t? Protestakt­ion am Wahltag in London

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