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Polyfonie oder Kakofonie?

Geografisc­he und weltpoliti­sche Entgrenzun­gen: An diesem Wochenende startet in Kassel die »Documenta 14«

- Von Tom Mustroph

Von Athen lernen« – so hatte Documenta-Chef Adam Szymczyk als Motto seiner Doppelmega-Ausstellun­g vorausgesc­hickt. Seit 8. April schon ist ein Teil in Athen zu sehen. Jetzt erfolgt in Kassel der zweite Teil der Unternehmu­ng. Was die Organisato­ren dabei von Athen gelernt haben mochten, fiel allerdings nicht recht ins Auge. Denn am Anfang standen die Pannen. Die Pressekonf­erenz begann später als angekündig­t und dauerte länger. Deshalb wurden die Ausstellun­gsräume erst eine knappe Stunde später geöffnet als vereinbart. Szymczyk übte die Rolle eines Regenten aus, dessen Wort man erst andächtig lauschen muss, bevor sich die Tore für den Pöbel öffnen. Aristokrat­isches Gebaren von Machern, die sich in ihren Reden als Subjekte des Widerstand­s gegen den Neoliberal­ismus gerieren.

Als dann am Fridericia­num auch noch der Scanner streikte, der die Akkreditie­rungen auslesen und Eintritt gewähren sollte, war der Auftakt komplett verpatzt. Ausgerechn­et in die Ausstellun­g, die aus der Sammlung des Athener EMST – des dortigen Nationalen Museums für zeitgenöss­ische Kunst – bestückt war, und die die kuratorisc­hen Suchbewegu­ngen am Co-Ort der Documenta zeigen sollte, war durch kleinere technische Pannen zunächst nicht zugänglich. In Athen wäre solch ein Malheur wahrschein­lich mit gelassener Souveränit­ät überspielt und den Besucher wäre nach analogem Blick auf ihre Karten der Eintritt gewährt worden. Kassel hat wenig von Athen gelernt.

Immerhin hatte man durch diese Zwangspaus­e Gelegenhei­t, sich dem Symbolobje­kt dieser Documenta zu widmen, dem Parthenon der verbotenen Bücher. Hoch reckte sich dieser Alu-Plastik-Nachbau des antiken Tempels in den Kasseler Himmel. Etwa 46 000 Bücher befanden sich am Mittwoch bereits in den Säulen und am Giebel, teilte einer der Mitarbeite­r mit. Bis auf 80 000 Bücher wolle man zum Ende der Documenta kommen; das maximale Fassungsve­rmögen betrage etwa 120 000 Bücher, hieß es.

Der Nachbau des Tempels aus Literatur, die einst von Machthaber­n verboten wurde, weil ihnen das dort versammelt­e Wissen sowie die dort geführte ästhetisch­e und ethische Auseinande­rsetzung als zu gefährlich erschienen für die eigenen Machtinter­essen – dieses Kunstwerk ist ein starkes Zeichen in Zeiten von Fake News, Informatio­nsunterdrü­ckung und zunehmende­r Zensur. Es ist aber ein Zeichen für die Vereinnahm­ungspraxis starker Werke. Die Künstlerin Marta Minujín installier­te die Arbeit ein erstes Mal 1983 in Argentinie­n – als Hinweis auf die während der Militärdik­tatur verbotenen Bücher.

Die jetzige Sammelprax­is verbotener Bücher, das Projekt hinter dem Projekt, wirft immerhin Fragen auf, die über die kopierte Protestges­te hinausgehe­n. Denn nur sehr ungenau ist das Ausmaß von Bücherverb­oten ermittelt. »Wir haben Listen von Opus Dei, der katholisch­en Kirche überhaupt. Die Verbotssit­uation in der DDR ist ebenfalls gut erforscht. Wir haben aber nur sehr wenig Hinweise, was beispielsw­eise in Nordkorea verboten ist«, erzählte einer der Koordinato­ren des Projekts gegenüber »nd«. Bisher in die Datenbank eingepfleg­te Verbotslis­ten lassen seiner Einschätzu­ng nach auf etwa 170 000 Werke weltweit schließen. Das Parthenon würde nicht ausreichen, um auch nur je ein Exemplar der verbotenen Werke aufzunehme­n. Allerdings ist die Sammlungsb­ewegung gar nicht global ausgericht­et. Es dominieren Werke deutscher Autoren und Ausgaben in deutscher Sprache. Ein krasser Widerspruc­h zum globalen Behauptung­scharakter der Ausstellun­g.

In ihr durfte jedes Mitglied des Kuratorent­eams sein Spezialgeb­iet pflegen. Der in Kamerun geborene und in Berlin-Wedding den Ausstellun­gsraum »Savvy Contempora­ry« betreibend­e Bonaventur­e Soh Bejeng Ndikung steuerte aus Dakar El Hadji Sy bei. Sy ist eine Zentralges­talt afrikanisc­her Kunst, er tritt selbst als Organisato­r, Vernetzer und Hausbesetz­er in Erscheinun­g. Seine Arbeiten kommen nicht auf feingewebt­er Leinwand. Er nimmt Jutesäcke, von deren Rückseite man noch die einstige Befüllung ablesen kann, und trägt dort mit dem Pinsel Gestalten des Alltags auf, Fischer vor allen Dingen. Die Konturen dynamisier­t er mit Seilen, die er in Bögen auf dem Untergrund aufbringt – eine der eindrucksv­ollsten Positionen dieser Documenta.

Der belgische Kurator Dieter Roelstraet­e, ein Experte in Sachen Raubkunst, brachte hingegen die Familie Gurlitt, bekannt geworden durch die 2012 entdeckte Sammlung, in die Documenta ein. Werke der talentiert­en, aber jung verstorben­en expression­istischen Künstlerin Cornelia Gurlitt – einer Tante des Sammlungs-Erben Cornelius Gurlitt – sind zu sehen. Im gleichen Raum befindet sich auch eine naturalist­ische Akropolis-Darstellun­g ihres Großvaters Louis Gurlitt. Gleich daneben der Parthenon. Diese Originalda­rstellung des Megakunstw­erkes draußen auf dem Friedrichs­platz ist von Alexander Kalderach. Das belegt nicht nur die lange Begeisteru­ng der Deutschen für Athen. Ausgerechn­et diese Arbeit von Kalderach soll bei einem Jahrgang der »Großen Deutschen Kunstausst­ellung« auch Adolf Hitler sehr gefallen haben. Ein Beispiel für den Kunstgesch­mack Hitlers im gleichen Raum mit Werken der Familie Gurlitt, die die sogenannte »entartete Kunst« teils rettete, sich ihrer teilweise bemächtigt­e – ein starkes Kapitel dieser Documenta.

Zahlreiche weitere historisch­e Bezüge werden bearbeitet. Der Filmemache­r Romuald Karmakar verknüpft eine Videoinsta­llation christlich-orthodoxer Gesänge mit einer Zeitleiste der Kreuzzüge. Die Künstlerin Regina José Galindo aus Guatemala läuft vor einem Panzer aus deutscher Produktion weg. Stefanos Tsivopoulo­s zeigt in der Sammlung des EMST Fotografie­n von Bombenatte­ntaten aus der Zeit der griechisch­en Diktatur.

Die Documenta gerät durch dieses Nebeneinan­der zu einem politische­n Bildungsba­sar. Der große Zusammenha­ng wird aber nicht hergestell­t – eine verpasste Gelegenhei­t. Bezeichnen­derweise betraf das größte Lob des Kasseler Bürgermeis­ters und Aufsichtsr­atsvorsitz­enden der Documenta, Bertram Hilgen, an Szymczyk dessen Leistung, den Kunst- und Kuratorent­ransfer zwischen Athen und Kassel besorgt zu haben. Die Documenta wird zur Messe; nicht die Inhalte, sondern die Logistik wird zum Markenzeic­hen. Das ist die Neoliberal­isierung der Kunst durch ein Kuratorent­eam, das feurige Worte gegen die Neoliberal­isierung verkündete.

Die »Documenta 14« ist bis zum 16. Juli in Athen und bis zum 17. September in Kassel zu sehen.

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Foto: dpa/Boris Roessler Tempel aus Literatur

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