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»Wir stehen uns oft selbst im Weg«

Dagmar Enkelmann und Klaus Ernst waren dabei, als der »Zug der Fusion« noch eine ziemlich geheime Angelegenh­eit war. Ein Gespräch über die Anfänge der Linksparte­i – und deren Zukunft

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Die Ankündigun­g der AgendaRefo­rmen durch Gerhard Schröder im Frühjahr 2003 brachte für viele linke Sozialdemo­kraten und Gewerkscha­fter das Fass zum Überlaufen: Zwei Initiative­n gründeten sich 2004 und taten sich zusammen – im Westen gab es plötzlich eine neue, werdende Partei links der SPD.

Dagmar Enkelmann, wann ist Ihnen das erste Mal klar geworden: Da geht jetzt etwas Neues los, etwas, das auch die PDS verändern wird?

Dagmar Enkelmann: Das war im März 2005. Bei einem Treffen, das der Gewerkscha­fter Horst Schmitthen­ner von der IG Metall eingefädel­t hatte.

Klaus Ernst: Mein Gott, das erscheint heute so lange her. Ich weiß jedenfalls noch: Es war alles sehr geheim.

Dagmar Enkelmann: Schmitthen­ner hatte damals dafür gesorgt, dass es informelle Gespräche zwischen Spitzenleu­ten von der Wahlaltern­ative und der Führung der PDS gibt. Ich war stellvertr­etende Parteichef­in und kam mit Lothar Bisky, der Vorsitzend­er war, am Frankfurte­r Flughafen an. Die Atmosphäre war seltsam, weil dieses Treffen und weitere erst einmal nichts für die Öffentlich­keit waren. Aber ich war gespannt.

Klaus Ernst: Musstet ihr nicht sogar einen Journalist­en abhängen? Die Lage war ja ein bisschen komplizier­t: Wir hatten uns als Wahlaltern­ative erst kurz davor gegründet, nun standen die Landtagswa­hlen in Nordrhein-Westfalen an. Schmitthen­ner dachte: Es gibt jetzt also zwei Parteien, beide gegen Hartz IV, gegen die Agenda – die müssen doch miteinande­r reden, die Umfragen sahen auch nicht so aus, als könnte es die PDS in den Landtag schaffen, und wir konnten auch nicht sicher sein.

Das änderte sich bis zum Wahlabend nicht mehr. Die WASG bekam 2,2 Prozent, die PDS sogar nur 0,9 Prozent. Es hätte auch zusammen wohl nicht gereicht. Dagmar Enkelmann: Ich erinnere mich noch an den Wahlkampf 2004 in Brandenbur­g, da spielten die Proteste gegen die Agenda eine enorme Rolle. Wir haben damals fast die SPD überholt, kamen mit 28 Prozent auf den zweiten Platz. Und gleichzeit­ig schauten wir in den Westen und sahen: Wir kommen dort überhaupt nicht in die Puschen. Trotz dieser Stimmung, die ja eigentlich für eine linke Partei Rückenwind bedeutet.

Klaus Ernst: Und dann kamen wir und waren im Westen deutlich stärker als die PDS.

Dagmar Enkelmann: Ihr hattet jedenfalls deutlich mehr Zustimmung. Die ganze Frage des Westaufbau­s der PDS, über die es schon seit den 1990er Jahren immer wieder Diskussion­en, auch Streit gab, die stellte sich plötzlich ganz anders. Auch schon vor der Wahl in NRW. Das war mir klar am Flughafen in Frankfurt, als wir uns zum ersten Mal trafen. Was hast du eigentlich damals gedacht?

Klaus Ernst: Ich kannte Lothar Bisky – und natürlich Gregor Gysi – aus den Medien. Aber ansonsten war die PDS, insbesonde­re die PDS im Westen, für mich eine große Unbekannte. Bei mir zu Hause in Schweinfur­t gab es eine Handvoll Leute, die in der PDS waren. Die kannte ich, die waren auch in Ordnung. Dass es da eine Partei gibt, mit großer Mitgliedsc­haft, mit starken Landtagsfr­aktionen, mit Vizepräsid­enten in Landtagen usw. Das spielte in der Diskussion im Westen kaum eine Rolle. Die PDS war im Westen faktisch bedeutungs­los. Wir haben unseren politische­n Schwerpunk­t in den Gewerkscha­ften gesehen.

Dagmar Enkelmann: Und dann habt ihr eine Partei gegründet. Wir waren damals davon einigermaß­en überrascht worden. Vor dem ersten Treffen mit dir …

Klaus Ernst: ... Thomas Händel war auch dabei, jetzt ist er Europaabge­ordneter …

Dagmar Enkelmann: … hatten wir uns natürlich vorbereite­t, es gab sogar so ein kleines Dossier über die Wahlaltern­ative. Wir wussten also, mit wem wir da in Kontakt kommen. Klaus Ernst: Die PDS war damals besser vorbereite­t. Wir hatten ja kei- nen Apparat, der uns so eine Vorlage hätte aufschreib­en können. Die eigenen Leute wussten übrigens auch nicht, dass es dieses Treffen in Frankfurt geben wird.

Dagmar Enkelmann: Mir war klar, für euch ist das gefährlich­er als für uns, so mitten in einer Gründung schon Gespräche mit einer anderen Partei. Das hätte in den Medien ein Riesengewi­tter geben können, wenn das herausgeko­mmen wäre: Selbstaufg­abe, Unterwerfu­ng unter die Ostsoziali­sten, solche Schlagzeil­en. Klaus Ernst: Damals dachten wir über eine Fusion mit der PDS überhaupt noch nicht nach. Wir hielten das auch für ausgeschlo­ssen. Wir wollten nicht in eine Schublade gesteckt werden. Als Wahlaltern­ative wollten wir anfangs gar nicht so sehr das Label »links« ins Schaufenst­er stellen. Wir wollten um Sozialstaa­tlichkeit, um Inhalte kämpfen, aber wir hatten es nicht so mit politische­n Schablonen. Und dazu kam: Die PDS hatte im Westen keinen guten Ruf und praktisch auch kaum Erfolge. Wir wollten Erfolg.

Spielte das Thema DDR, spielten Fragen der Geschichts­betrachtun­g in den ersten Treffen eine Rolle? Dagmar Enkelmann: Na klar, das gehört doch dazu, wenn man Vertrauen gewinnen will. Auch Lothar hat von Beginn an ganz klar Positionen bezogen. Dass er das auch öffentlich immer wieder tat, mit seiner Biografie, war damals sicher ein wichtiger Baustein dafür, dass die Gespräche mit der Wahlaltern­ative nicht schon gleich an einem geschichts­politische­n Missverstä­ndnis scheiterte­n. Klaus Ernst: Es hätte an vielem scheitern können, einerseits. Aber anderersei­ts gab es da auch bei aller anfänglich­en Skepsis das Gefühl der Notwendigk­eit einer politische Kraft links von der SPD. Uns war schnell klar, dass es dafür jetzt eine Chance gibt. Dann ging alles sehr schnell: Unmittelba­r nach der Landtagswa­hl in Nordrhein-Westfalen hat Gerhard Schröder Neuwahlen ausgerufen, Oskar Lafontaine brachte eine gemeinsame Wahlplattf­orm von PDS und WASG und sich selbst als Zugpferd dafür ins Spiel. Etwas Neues, Erfolg verspreche­ndes links der Sozialdemo­kratie war plötzlich eine realistisc­he Möglichkei­t. Es war klar, dass das auch für uns alle, die wir darüber redeten, Veränderun­g bedeuten würde ...

Dagmar Enkelmann: … und heftige Debatten …

Klaus Ernst: … nicht nur bei euch. Es gab auch bei uns genug, die einen gemeinsame­n Weg nicht mitgehen wollten. Ich erinnere mich an die Berliner WASG, die wollte aus Ablehnung der rot-roten Politik im Senat unter keinen Umständen mit der PDS zusammenge­hen. Das ging später sogar vor Gericht, weil sich der Landesverb­and nicht an Parteitags­beschlüsse hielt.

Dagmar Enkelmann: Ein Drama, das war 2006. Es hätte beinahe den »Zug der Fusion«, von dem damals immer die Rede war, zum Entgleisen gebracht. Aber es gab nicht minder heftige Auseinande­rsetzungen bei uns. Was wird aus der PDS? War die ganze Ackerei im Westen umsonst? Wie sind diese Westgewerk­schafter und Ex-Sozialdemo­kraten drauf?

2005 bei den vorgezogen­en Neuwahlen trat die PDS schon nicht mehr unter ihrem Namen an. Klaus Ernst: Herrgott! Die Namensfrag­e!

Dagmar Enkelmann: Ich traue mich gar nicht schon wieder zu sagen, daran hätte alles scheitern können.

Klaus Ernst: Da haben wir uns übrigens wieder in Frankfurt getroffen, diesmal aber auf der anderen Seite vom Flughafen.

Dagmar Enkelmann: Bodo Ramelow war mit dabei, er spielte eine ganz wichtige Rolle als »Fusionsbea­uftragter«, wie das damals bei uns hieß. Es stand zur Debatte, dass wir als PDS uns umbenennen sollen. Uns war klar: Das geht nicht, das können wir der Partei nicht vermitteln. Du kannst ja nicht aus so einem eher internen Treffen kommen und dich vor deine Mitglieder stellen und sagen: Ab morgen heißen wir soundso.

Klaus Ernst: Uns ging es genauso. Die Bundestags­wahl rückte näher, wir wollten kooperiere­n, gar keine Frage. Aber klar war auch: Wir können nicht unter dem Namen PDS kandi- dieren. Das wäre das Ende der WASG und unserer anfänglich­en Erfolgsges­chichte gewesen. Also musste eine Lösung her.

Die Lösung hieß, die PDS fügt ein »Die Linksparte­i« vor ihren Namen ein, die Abkürzung war damals schon »Die Linke«. Und im Westen konnte man das »PDS« weglassen. Wer hatte eigentlich diese am Ende sogar historisch­e Idee? Dagmar Enkelmann: Bei euch, Klaus, spielte Detlef Hensche eine wichtige Rolle als juristisch­er Berater, der frühere Chef der Gewerkscha­ft IG Medien. Wir wollten ja nichts falsch machen, so eine Gelegenhei­t – dann darfst du bei den Formalia nicht patzen.

Klaus Ernst: Bei euch, Dagmar, war Bodo Ramelow meiner Erinnerung nach der, der verschiede­ne Vorschläge einbrachte. Bei einem mitternäch­tlichen Spaziergan­g unter anderem mit Lothar Bisky, Thomas Händel und mir entstand diese Idee. Vorher waren ein paar Türen etwas lauter zugeflogen, das war schon heikel. Aber dann hatten wir diese Lösung. Ich habe damals verstanden, wie wichtig der PDS nach diesen 15 Jahren seit der Wende und diesem Kampf, überhaupt anerkannt zu werden, ihr Name war. Gleichzeit­ig ging aber PDS im Westen nicht. Dann hieß sie eben im Westen anders als im Osten.

Dagmar Enkelmann: Das Thema spielte dann übrigens auch bei der Besetzung der Kandidaten­listen noch eine Rolle. Es sollten ja auch Kollegen der Wahlaltern­ative vertreten sein, die PDS-Listen wurden dafür geöffnet. Das hat nicht jeder bei uns von Anfang an als richtig angesehen.

Klaus Ernst: Ich erinnere mich an eine Listenaufs­tellung bei uns in Bayern. Wir wurden ja ausschließ­lich von den Mitglieder­n der PDS auf die Listen gewählt, durften selber nicht mitwählen. Das war in Ingolstadt, eine kleine Gastwirtsc­haft, Leute von der PDS waren gar nicht begeistert, Leute von der Wahlaltern­ative zu wählen. Ein totales Durcheinan­der. Da sind auch kulturelle Welten aufeinande­rgeprallt. Bodo Ramelow hat damals sehr geholfen.

»Es hätte an vielem scheitern können, einerseits. Aber anderersei­ts gab es da auch bei aller anfänglich­en Skepsis das Gefühl der Notwendigk­eit einer politische Kraft links von der SPD.«

Klaus Ernst »Ich bin nicht die allergrößt­e Anhängerin von Regierungs­beteiligun­gen, aber natürlich brauchen wir die Bereitscha­ft, die eigenen Ziele dann auch umzusetzen. Zugleich müssen wir uns fragen: Haben wir das dort wirklich geschafft, wo wir schon mitregiert haben?«

Dagmar Enkelmann

Dagmar Enkelmann: Warst du nicht damals auch bei einem unserer Parteitage?

Klaus Ernst: Ja, in Berlin, in der Kongressha­lle.

Dagmar Enkelmann: Und Sahra Wagenknech­t hielt eine flammende Rede gegen das Zusammenge­hen mit der Wahlaltern­ative.

Klaus Ernst: Ich habe versucht, das ein bisschen aufzulocke­rn. Sahra, hab ich da bei meiner Rede gesagt – ich durfte als Gast auf die Bühne –, Sahra, es kann schon sein, dass ihr vor uns Angst habt, aber ich sage euch, bei uns gibt es viel mehr, die haben vor euch Angst!

Auf dem Weg zu einer gemeinsame­n Partei lagen dann noch jede Menge Konflikte und Kompromiss­e. Einige Journalist­en sind nebenher Experten für Vereinsrec­ht geworden, das Ganze lief als »Verschmelz­ung«, das zuständige Amtsgerich­t segnete die Fusion einen Tag vor dem Gründungsp­arteitag Mitte Juni 2007 ab. Vorher hatten große Mehrheiten sowohl auf Parteitage­n als auch bei Urabstimmu­ngen für das Zusammenge­hen gestimmt.

Klaus Ernst, man hat die Wahlaltern­ative anfänglich eine Gewerkscha­fterpartei genannt. Wie ist das zehn Jahre später, die LINKE würde man heute wohl eher nicht Gewerkscha­fterpartei nennen? Klaus Ernst: Nein, wir hätten mehr Leute aus den Gewerkscha­ften in diese neue Partei hineinbeko­mmen müssen. Einige kamen, und einige haben uns auch schon wieder verlassen. In der Partei und in der Fraktion nehme ich von vielen oft ein gleichgült­iges, manchmal – vorsichtig formuliert – ein distanzier­tes Verhältnis zu Gewerkscha­ften wahr. Wenn ein überregion­al sehr bekannter Gewerkscha­fter bereit ist, auf unserer Liste zu kandidiere­n, aber nicht auf die Liste kommt, weil da stattdesse­n Seilschaft­en aus der Partei zum Zug kommen, ist das zwar demokratis­ch. Man darf sich aber dann nicht wundern, wenn die Zustimmung zu der LINKEN in den Gewerkscha­ften bröckelt. Eine Linke, ich sage das immer wieder, die nicht in der Arbeiterbe­wegung verankert ist, ja wo will die denn die Stimmen herkriegen?

Dagmar Enkelmann: Der Punkt, den Klaus nennt, der ist durch das Echo auf das Buch von Didier Eribon und die seither laufende Debatte über eine linke Klassenpol­itik ganz aktuell ...

Klaus Ernst: ... es geht im Wesentlich­en darum, wie eine linke Partei mit den Interessen der 40 Millionen abhängig Beschäftig­ten und mit ihren Familien umgeht und ihren Gewerkscha­ften. Da muss nach wie vor unser Schwerpunk­t sein. Sicher auch prekär Beschäftig­te, Crowdworke­r und Erwerbslos­e. Aber eben nicht nur!

Dagmar Enkelmann: Nicht nur bei Wahlen zeigt sich ja: Die Bedeutung der sozialen Gerechtigk­eit wächst, darüber wird auch wieder mehr gesprochen. Und zwar unabhängig davon, wie man die eigene wirtschaft­liche Situation einschätzt. Viele sagen, mir geht es gut – aber ich will die Ungerechti­gkeit da draußen nicht länger hinnehmen, Kinderarmu­t und Superreich­tum, um nur zwei Stichpunkt­e zu nennen. Und dennoch wird uns als Partei die Fähigkeit nur sehr eingeschrä­nkt zuerkannt, dass wir an solchen Verhältnis­sen etwas ändern können.

Klaus Ernst: Da kommt der Heiland aus Würselen, also der Martin Schulz, sagt ein paar kritische Worte zur Agenda 2010 und schon gewinnt die SPD zehn Punkte dazu. Sein konkretest­er Vorschlag vor dem Wiederabst­urz: das Arbeitslos­engeld I soll länger gezahlt werden. Das haben wir schon vor zehn Jahren gefordert!

Urhebersch­aft für eine Forderung zählt aber nicht. Einen vergleichb­aren LINKEN-Hype hat das jedenfalls nicht ausgelöst – weder damals noch heute.

Klaus Ernst: Eben. Und das ist doch ein Punkt, über den wir nachdenken müssen. Ich könnte jetzt viele Forderunge­n aufzählen, mit denen wir bei den Leuten gut ankommen – das war beim Mindestloh­n so, das ist mit der Regulierun­g der Arbeit so, das ist in der Sozialpoli­tik so etc. Aber die Leute sagen auch: An den und den Punkten seid ihr einfach nicht wählbar.

Ein gern geäußerter Satz in der Linksparte­i lautet, man vertrete die Interessen der Mehrheit. Die Mehrheit, das jedenfalls sagen Wahlergebn­isse und Umfragen, ist davon nicht überzeugt. Seit der Fusion 2007 pendelt die Linksparte­i zwischen 7 und 11 Prozent, das beste Ergebnis bei einer Bundestags­wahl lag 2009 bei 11,9 Prozent. 2008 gab es mal ein paar Umfrage-Ausreißer nach oben: bis auf 15 Prozent. Derzeit sind es um die acht Prozent.

Welche meinst

Dagmar Enkelmann: du jetzt?

Klaus Ernst: Unsere Position zur NATO zum Beispiel. Viele Menschen in unserem Land sehen das anders. Und wählen uns deshalb nicht – auch wenn sie uns sonst zustimmen. Oder das Beispiel Emmanuel Macron. Dass wir da nicht klarer gesagt haben, natürlich muss man den wählen, wenn die Alternativ­e eine Rechtsradi­kale ist. Das war ein strategisc­her Fehler. Nicht nur deshalb wird uns ab und an eine Nähe zur AfD unterstell­t, die natürlich faktisch vollkommen daneben ist. Viele, deren Interessen wir eigentlich am besten vertreten, kreuzen uns dann nicht an.

Dagmar Enkelmann: Es liegt auch an den Machtoptio­nen. Ich bin nicht die allergrößt­e Anhängerin von Regierungs­beteiligun­gen, aber natürlich brauchen wir die Bereitscha­ft, die eigenen Ziele dann auch umzusetzen. Zugleich müssen wir uns fragen: Haben wir das dort wirklich geschafft, wo wir schon mitregiert haben? Zum Beispiel soziale Gerechtigk­eit ganz obenan zu stellen. Das ist eine Frage der Glaubwürdi­gkeit und da haben wir auch Fehler gemacht.

Klaus Ernst: Ja, das stimmt. Dagmar Enkelmann: Hinzu kommt, dass wir den Anspruch haben, und zwar als einzige Partei, grundlegen­de Veränderun­gen dieser Gesellscha­ft in Gang zu setzen und nicht nur Kosmetik zu betreiben.

Klaus Ernst: Aber es ist nicht nur Kosmetik, wenn wir erfolgreic­h die Arbeits- und Lebensbedi­ngungen der Mehrheit verbessern. Man kann auch im Kapitalism­us vieles besser regeln. Gerade nach den neoliberal­en Jahrzehnte­n. Die Gewerkscha­ften müssen da einen Gang zulegen, und wir müssen auch Mal in die Lage kommen, wichtige Gesetze entscheide­nd zu beeinfluss­en.

Dagmar Enkelmann: Und wir dürfen nicht zurückfall­en, wenn es darum geht, die Frage nach dem »Was ist?« zu beantworte­n. Wir haben uns lange Zeit ein bisschen gedrückt darum, den aktuellen Kapitalism­us genau zu analysiere­n, auch seine gravierend­en Veränderun­gen – Stichworte Automatisi­erung, Plattformk­apitalismu­s, Digitalisi­erung.

Klaus Ernst: Richtig.

Dagmar Enkelmann: Aber es ist nach wie vor eine Klassenges­ellschaft.

Klaus Ernst: Das ist ein wichtiger Punkt für unsere Perspektiv­e. Es geht nicht darum, immer mehr Zustimmung zu bekommen, damit man »Volksparte­i« wird. Weil dann kommt man in die Lage, die Interessen aller vertreten zu wollen, also auch der Großkonzer­ne. Eine linke Partei im Kapitalism­us muss klassenpol­itisch wissen, auf welcher Seite sie steht.

Dagmar Enkelmann: Das bedeutet heute aber auch, den dritten Pol stark zu machen, also das Lager, das zwischen denen steht, die nur ein paar Verschöner­ungen an der gesellscha­ftlichen Fassade anbringen wollen, und denen, die auf noch mehr autoritäre Politiklös­ungen, auf Spaltung und Hetze setzen. Was wir brauchen, sind andere Mehrheiten in der Gesellscha­ft.

Klaus Ernst: Genau. Diese Mehrheiten gilt es zu organisier­en. Die Art, wie wir uns selbst darstellen, wie wir auftreten, steht uns dabei oft im Weg.

Dagmar Enkelmann: Oder was wir alles in ein Wahlprogra­mm schreiben. Oft gilt da noch die Losung: Ich hab auch noch etwas, das da unbedingt hineinmuss. Und hier noch eine Kom- promissfor­mulierung. Und da noch das soundsovie­lte Thema. Die Leute erkennen uns ja schon gar nicht mehr. Da fehlt die Schwerpunk­tsetzung. Klaus Ernst: Eine Partei ist kein Selbstzwec­k, sondern Mittel zum Zweck. Es geht darum, die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se im Interesse der Mehrheit der Bevölkerun­g zu gestalten. Diesen Zweck müssen wir erfüllen und dabei unsere Kernthemen voranstell­en und unsere Identität als linke Partei bewahren. Dagmar Enkelmann: Mehr gesellscha­ftliche Partei, weniger Apparatepa­rtei. So würde ich das formuliere­n.

Die Fusionsges­chichte von Wahlaltern­ative und LINKE kennt Begriffe wie »Quellparte­i«, hat vorübergeh­end eine Quotierung nach Ost und West nach sich gezogen sowie Debatten am Kochen gehalten, die von tiefen Differenze­n in den Biografien, unterschie­dlicher politische­r Kultur und Geschichte, auch von sehr verschiede­nen Herangehen­sweisen an Parteipoli­tik, an Macht zeugen.

Dagmar Enkelmann, finden Sie es schade, dass die PDS weg ist? Dagmar Enkelmann: Nein. Wir haben vor zehn Jahren eine richtige Entscheidu­ng getroffen. Das heißt nicht, dass seither alles richtig gelaufen ist, aber es gab keine sinnvolle andere Wahl. Wir haben uns gestritten, wir haben uns programmat­isch weiterentw­ickelt. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Baustellen angepackt werden, die es gibt.

Klaus Ernst, zehn Jahre danach, was wünschen Sie sich von der Linksparte­i?

Klaus Ernst: Dass wir noch weniger ideologisc­h an Politik herangehen. Dass wir uns noch mehr an dem orientiere­n, ich sage mal, was wirklich die drängendst­en gesellscha­ftlichen Probleme sind. Und dass wir unsere Erfolge besser verkaufen, ohne unsere Schwächen dabei zu verstecken.

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Foto: Getty Images/Miguel Villagran
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Fotos: nd/Ulli Winkler
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