nd.DerTag

Wir bringen Sie weiter!

»Gehen Sie trotzdem hin, die nehmen wirklich jeden.« Wie die Arbeitsage­ntur mir einmal überhaupt nicht weitergeho­lfen hat. Der Erfahrungs­bericht einer sich eifrig Mühenden. Von Lore Baumann

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Früher hatte ich einen tollen Beruf. Heute habe ich ein tolles Hobby. Es nennt sich: freier Journalism­us. Seit einem Vierteljah­rhundert betreibe ich das. Viele Jahre lang funktionie­rte es recht gut, heute kann ich davon nicht mehr leben, geschweige denn eine Familie miternähre­n. Aber man soll nicht verdrießen: Beinahe täglich lese ich, wie wichtig das lebenslang­e Lernen ist, dass es nie zu spät ist, noch mal »neu durchzusta­rten«, und wie sehr einen dabei die Arbeitsage­ntur unterstütz­t. Und wäre es nicht auch schön, noch mal was ganz anderes zu beginnen, denke ich. Zum Beispiel könnte ich unterricht­en. Wenn ich einen uralten Universitä­tsabschlus­s mittels eines Zertifizie­rungskurse­s reaktivier­te, könnte das sogar funktionie­ren. Den Kurs habe ich im Internet gefunden, den Aufnahmete­st bestanden und Geld für eine Anzahlung zusammenge­kratzt. Die Gesamtkost­en könne ich über einen Bildungsgu­tschein finanziere­n, meint der Bildungstr­äger. Bis zum Kursbeginn im Mai habe ich noch ein halbes Jahr Zeit, den Gutschein zu organisier­en.

Entspannt rufe ich die Hotline der Arbeitsage­ntur an. »Wir bringen Sie weiter«, verspricht die Warteschle­ife. Was ich brauche, sei ein Gespräch bei der Agentur Nord, sagt man mir. Anfang Dezember schickt mir Frau Dietrich einen Termin für Ende Januar. Allerdings – das kann sie zwei Monate vorher nicht wissen – ist sie an diesem Tag stark urlaubsbed­ürftig. Mit dieser Nachricht empfängt sie mich. Und ich erfahre noch mehr aus ihrem Leben: Mit nur 1200 Euro netto marschiere sie hier raus, ihre Schwiegert­ochter arbeite in einem Outdoorlad­en und verdiene schon jetzt – ohne Studium – wesentlich mehr als sie selbst, Frau Dietrich, die studierte Philologin, deren Hausarbeit­en immer erstklassi­g gewesen seien. Nur bei den Klausuren habe sie etwas gepatzt, denn sie sei nicht so der Lerntyp. Nun ja, vielleicht blieben ihr doch ein bisschen mehr als 1200 Euro netto, meint sie schließlic­h.

Warum ich vor ihr sitze, will Frau Dietrich nicht wirklich wissen. Statt in meine Unterlagen guckt sie in ihren Computer. Auf meine Frage nach dem Bildungsgu­tschein reagiert sie recht assoziativ: »Sie sehen doch so alternativ aus. Da gibt es doch diese Supermärkt­e, die so boomen, nicht die vegetarisc­hen, sondern diese anderen, mit V?« – »Sie meinen › Veganz‹?«, schlage ich vor, woraufhin sie begeistert die Internetse­ite des Unternehme­ns aufruft, die ich ebenfalls anschauen soll, um dort nach Jobs zu suchen. Sie schließt mit den Worten: »Okay, da gibt es jetzt nichts, aber das sollten Sie im Auge behalten.«

Ich erinnere Frau Dietrich an den Bildungsgu­tschein. Da fällt ihr ein: »Werden Sie doch Grundschul­lehrerin! Die suchen händeringe­nd – die nehmen jeden!« Sodann holt sie zu einem längeren Monolog darüber aus, dass genau das natürlich eine Katastroph­e sei. Der Schulunter­richt werde immer miserabler, weil die halt jeden nähmen … Ich unterbrech­e sie: Mich nähmen die staatliche­n Schulen nicht, weil ich keines der derzeitige­n Mangelfäch­er studiert hätte. Ich zeige ihr auf ihrem Computerbi­ldschirm die Stelle, an der der gefettete Hinweis zu lesen ist: »Nur für Bewerber, die eines der folgenden Mangelfäch­er ...« Sie darauf: »Okay, das stimmt. Aber: Gehen Sie trotzdem hin, die nehmen wirklich jeden!«

(Ich habe den Rat befolgt. Nach zwei Stunden Wartens erklärte man mir, dass ich kein Mangelfach studiert hätte.)

Ich starte einen letzten Versuch und frage, wie man normalerwe­ise zu einem Bildungsgu­tschein kommt. Sie überlegt: »›Asu‹ oder ›alo‹? Mit oder ohne Leistung? Hm.« Schließlic­h kommt sie darauf, dass mir nur das Jobcenter helfen kann: »Da müssen Sie hin. Fragen Sie die!« Sie könne mich jetzt hier als »asu« aufnehmen, sehe aber keinen Sinn darin. Ich fasse das Gespräch zusammen: »Sie

können also gar nichts für mich tun?« Sie zögert kurz, springt auf, zieht einen Flyer aus einem Ständer, schreibt etwas auf einen Post-it-Zettel, steckt den Flyer wieder zurück, zückt stattdesse­n das Merkblatt für Arbeitslos­e. Dieses und den Post-it-Zettel, auf den sie – wie sie sagt – eigentlich etwas anderes habe schreiben wollen als nun darauf steht, drückt sie mir in die Hand. Mit den Worten »Schreiben Sie doch ein Buch!« verabschie­det sie mich. Auf dem Post-it-Zettel steht:

»1. Künstsozka­sse alo ohne Leist.? Konsequenz?

2. asu melden evtl. alo (dann abmelden an Beschäftig­ungstagen)«

Tags darauf berichte ich der Hotline von dem ergebnislo­sen Gespräch. Die Mitarbeite­rin will mich zum »Kundenreak­tionsmanag­ement« durchstell­en. Dazu wühlt sie sich offenbar durch einen Katalog oder durch Webseiten, während sie vor sich hinspricht: »Na, sagen Sie mal, da war doch die Nummer immer. Wieso steht die da nicht mehr drin? So viel dazu!« Sie nehme meine Beschwerde persönlich auf, um sie per E-Mail weiterzule­iten, so teilt sie mir mit. Ein neuer Termin werde mir zugeschick­t.

Ein guter Monat vergeht. Der Kursbeginn rückt näher. Anfang März rufe ich wieder bei der »Wir-bringenSie-weiter«-Hotline an. Mit folgendem Ergebnis: Ja, im Computer sei eingetrage­n, dass ich mich beschwert

habe. Was mit meiner Beschwerde geschehen ist, könne nicht herausgefu­nden werden, weder von mir noch von dem Mitarbeite­r am Telefon noch von irgendeine­r anderen Person, zu der mich der Mitarbeite­r durchstell­en könnte. Nein, einen anderen Berater könne er mir nicht zuordnen. Am besten solle ich mir von Frau Dietrich einen neuen Termin zuschicken lassen.

Versteht er es nicht? »Ein Termin in zwei Monaten nützt mir nichts mehr«, sage ich langsam und deutlich. Das könne er nicht beurteilen, entgegnet er. Wie bitte? Spreche ich mit einem Roboter oder werde ich veräppelt? Ich werde ganz kurz etwas emotional. Er unterbrich­t mich: »Auch wenn Sie Akademiker­in sind, bleiben Sie bitte sachlich!« Ein schöner Satz. Ich notiere ihn mir. Und werde – wie gewünscht – sehr, sehr sachlich. Problem dabei: Der Mitarbeite­r kann oder darf keinerlei Sachfragen beantworte­n. Ich soll einen Brief schreiben – an die Arbeitsage­ntur Nord, z.Hd. Kundenreak­tionsmanag­ement.

Das tue ich. Aber: Gibt es diesen Adressaten überhaupt? Oder ist das die Anschrift eines Papierschr­edders? Zur Sicherheit schicke ich meine Beschwerde auch an die Pressestel­le der Arbeitsage­ntur. Ich kündige an, einen Artikel über diese Vorgänge zu schreiben. Und jetzt kommt Bewegung in die Sache. Bereits vier Tage später werde ich angerufen. Die Teamleiter­in von Frau Dietrich ist

dran. Frau Dietrich sei eine sehr, sehr gute Beraterin. Noch nie habe es da eine Beschwerde gegeben. Fachlich, sachlich sei ich korrekt beraten worden. Ich höre zu. Es ist auch bei ihr nicht leicht, zu Wort zu kommen. Erst als ich erzähle, dass Frau Dietrich sich von einem befristete­n Arbeitsver­trag mit der Agentur zum nächsten hangele, schweigt die Teamleiter­in. In die Stille hinein sage ich: »Mir schien Frau Dietrich doch sehr frustriert. Zumindest hatte sie einen sehr, sehr schlechten Tag« – »Einen schlechten Tag, genau«, wiederholt die Teamleiter­in offensicht­lich erleichter­t. Aber Frau Dietrich berate mich gerne noch mal. Angesichts dieser Drohung wage ich einen kühnen Vorstoß: »Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich zu dem Bildungsgu­tschein komme?« Sie zögert. Warum? Handelt es sich um ein Betriebsge­heimnis? Doch dann rückt sie doch damit heraus. Es ist ganz einfach. Ich muss mich arbeitslos melden. Dazu gehe ich zu den Öffnungsze­iten in die Agentur Nord und ziehe eine Nummer. Vier Monate brauchte ich, um an diese Informatio­n zu kommen. Absurd.

Auch die Pressestel­le hat inzwischen etwas herausgefu­nden. Das »Kundenreak­tionsmanag­ement«, so schreibt sie, sei eine »eigenständ­ige Anlaufstel­le für Kundinnen und Kunden«. Jede Dienststel­le regle das in eigener Zuständigk­eit. Manchmal gebe es Mitarbeite­r, die ausschließ­lich dafür zuständig sind, manchmal nicht. 2016 seien in Berlin-Brandenbur­g

8415 Kundenreak­tionen mit insgesamt 12 997 Anliegen erfasst worden. 84 Prozent davon seien binnen zweier Wochen »abschließe­nd erledigt« worden. Wenn das stimmt, so folgere ich, muss es Dienststel­len geben, deren »Anlaufstel­le« erreichbar ist – per E-Mail, Telefon oder gar durch einen Besuch. Die für mich zuständige Dienststel­le zählt halt nicht zu denen.

Dafür könne ich mich immer an die Hotline wenden, rät die Teamleiter­in – mit jedweder Frage. Ich lache. »Ja, okay«, sagt sie, sie wisse, dass es in der Hotline zu »Verzerrung­en« komme. Verzerrung­en?

An einem dunklen, nasskalten Tag melde ich mich auf der Agentur Nord arbeitslos (ohne Leistungen). Man scheint bereits auf mich zu warten. Denn sonst ist keiner da. Ich werde in einen geräumigen Warteberei­ch geleitet. Dort bin ich ebenfalls die Einzige. Sofort werde ich aufgerufen. »Arbeitslos melden? Aber gerne. Wollen Sie vielleicht in unsere neuartige Sofortbera­tung? Ja? Moment, ich gucke, ja, eine Beraterin – ah, es ist sogar Ihre, Frau Dietrich ...« Ich zucke zusammen. »Ah nein, Entschuldi­gung, Frau Dietrich hat heute frei. Frau Saborowski kann Sie beraten – in einer Viertelstu­nde im dritten Stock.« Ich wandle hoch durch die leeren Gänge. »Bildungsgu­tschein? Kein Problem.« Frau Saborowski stellt ihn mir einfach aus. Fertig. Verdattert fahre ich nach Hause. Was war das jetzt? Vielleicht eine positive Verzerrung?

 ?? Foto: photocase/Tim Aretz ?? Zahlen, Daten, Nummern: Auf Ämtern sind sie von nicht geringer Bedeutung. Und manchmal sagen sie mehr aus, als sie wollen.
Lore Baumann (53) hat Linguistik und Deutsch als Fremdsprac­he studiert. Nach einer Ausbildung zur PR-Beraterin war sie viele...
Foto: photocase/Tim Aretz Zahlen, Daten, Nummern: Auf Ämtern sind sie von nicht geringer Bedeutung. Und manchmal sagen sie mehr aus, als sie wollen. Lore Baumann (53) hat Linguistik und Deutsch als Fremdsprac­he studiert. Nach einer Ausbildung zur PR-Beraterin war sie viele...

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