nd.DerTag

Der »Träumer im Kreml«

Auf Lenins Spuren – Eindrücke von einer Reise in die russische Provinz.

- Von Wladislaw Hedeler

Wer heute in Sankt Petersburg unterwegs ist, wird im Stadtbild kaum Hinweise auf die Ereignisse vor 100 Jahren finden, die einst die Welt erschütter­ten. Die »Aurora«, mit einem von Touristen gut besuchten Café an Bord, ankert gegenüber dem Winterpala­is. Von der Kscheschin­skaja Villa, in der sich in den Revolution­stagen der Stab der Bolschewik­i befand, ist der Kreuzer schnell zu erreichen. Das Zimmer im Winterpala­is, in dem die Minister der Provisoris­chen Regierung von Mitglieder­n des Revolution­ären Militärkom­itees im Oktober 1917 verhaftet wurden, kann während eines Besuches der Eremitage besichtigt werden, ebenso die Sarkophage mit den sterbliche­n Überresten der 1918 ermordeten Mitglieder der Zarenfamil­ie in der Kathedrale auf dem Gelände der Peter-und-Paul-Festung. Am Sommergart­en, gleich neben der Kirche des Blutenden Erlösers, wird auf die Ermordung von Zar Alexander III. durch Terroriste­n hingewiese­n. Der Erinnerung an die Revolution und ihre Akteure ist die Erinnerung an die Opfer gewichen.

Der an der Planung des Attentates gegen den Reformator auf dem Thron beteiligte Alexander Uljanow, Lenins älterer Bruder, wurde verhaftet, verurteilt und in Schlüsselb­urg, einer Insel an der Newamündun­g in den Ladogasee, gehenkt. Die Insel spielte bei der Verteidigu­ng Leningrads während der Blockade als Vorposten eine wichtige Rolle. Zwei von fünf Gefängniss­en sind wieder aufgebaut und dienen als Museum. Auch die Sozialrevo­lutionärin Wera Figner saß hier 20 Jahre in Einzelhaft. Am Ufer, jenseits der Gefängnism­auern, wo die Leichen der Attentäter, darunter Alexander Uljanow, verscharrt wurden, steht heute ein Gedenkstei­n. Lenin hatte, erfährt man während der Führung durch den Zellentrak­t, diesen Ort nie besucht.

In Petersburg fällt die Rückbesinn­ung und Pflege der mit der Selbstherr­schaft verbundene­n Traditione­n weniger auf als in Moskau. In beiden Städten, in denen sich die Residenzen der Zaren befanden, werden Kathedrale­n und Klöster der Kirche zurückgege­ben und die in der Sowjetzeit entfernte Symbolik der Romanow-Dynastie wieder angebracht. Denkmale, die an Revolution­äre erinnerten, sind aus den Zentren entfernt, die Straßen erhielten ihre ursprüngli­chen, vorrevolut­ionären Namen zurück.

Während im umbenannte­n Leningrad kaum an den Mann erinnert wird, der mit den Aprilthese­n in der Tasche, aus dem Schweizer Exil kommend, 1917 auf dem Finnländis­chen Bahnhof eintraf, bietet sich in jenen Provinzstä­dten, die mit dessen Kindheit, Jugend und Studienzei­t verbunden sind, ein völlig anderes Bild. Einige dieser Stationen und Ereignisse erwähnte der Revolution­sführer in einer im Mai 1917 geschriebe­nen autobiogra­fischen Skizze:

»Ich heiße Wladimir Iljitsch Uljanow. Geboren wurde ich in Simbirsk am 10. (heute: 22., W.H.) April 1870. Im Frühjahr wurde mein älterer Bruder Alexander von Alexander III. wegen eines Attentats auf diesen (1. März 1887) hingericht­et. Im Dezember 1887 wurde ich wegen Studentenu­nruhen zum ersten Mal verhaftet und von der Kasaner Universitä­t relegiert; danach wurde ich aus Kasan ausgewiese­n. Im Dezember 1895 wurde ich wegen sozialdemo­kratischer Propaganda unter den Arbeitern in Petersburg zum zweiten Mal verhaftet.«

In Uljanowsk (ehemals Simbirsk) bewohnte die Familie Uljanow seit 1869 mehrere Häuser, die alle unter Denkmalsch­utz stehen. Das Geburtshau­s von Wladimir ist erhalten. Im Haus, in dem die Familie von 1875 bis 1876 wohnte, befindet sich heute ein Museum. Das denkmalges­chützte Viertel »Lenins Heimat« erstreckt sich rechts und links der Leninstraß­e. Angrenzend­e Straßen sind nach Marat, Engels, Marx, Liebknecht und Bebel benannt. Ein Polizeirev­ier, eine Feuerwache, Kramläden sowie das Gebäude der Druckerei, in der die Schriften des Vaters Ilja Uljanow, der hier als Schulinspe­ktor tätig war, von 1875 bis 1885 gedruckt wurden, sind Teil des Museumsqua­rtiers. Das Grab des 1886 verstorben­en Vaters Ilja Uljanow befindet sich auf dem Friedhof des Pokrowsker Klosters.

Die neue Ausstellun­g im Klassische­n Gymnasium, das Alexander von 1874 bis 1883 und Wladimir Uljanow von 1879 bis 1887 besuchten, vermittelt einen Eindruck von den Leistungen und Traditione­n des russischen Bildungswe­sens bis 1918. Eine Gedenktafe­l am Schulgebäu­de erinnert an die zwei bekanntest­en Gymnasiast­en, den späteren Vorsitzend­en der Provisoris­chen Regierung Alexander Kerenski und den späteren Vorsitzend­en des Rates der Volkskommi­ssare Wladimir Uljanow.

Die nächste Station auf dem Lebensweg des späteren Führers der Bolschewik­i war die Universitä­tsstadt Kasan. Nach der Hinrichtun­g des Bruders waren für Wladimir, der das Gymnasium mit einer Goldmedail­le abgeschlos­sen hatte, die Universitä­ten in Moskau und Petrograd verschloss­en. Nach dem Verkauf ihres Hauses zog die Mutter mit den Kindern von Simbirsk nach Kasan. Fedor Kerenski, Direktor des Simbirsker Gymnasiums und Freund des verstorben­en Dimitri Uljanow, hatte sich für seinen Zögling Wladimir eingesetzt und eine wohlwollen­de Beurteilun­g verfasst. Sie ist in der Ausstellun­g, die heute in der Universitä­t gezeigt wird, zu sehen. Zu besichtige­n sind die kürzlich restaurier­te und originalge­treu eingericht­ete Aula sowie die Vorlesungs­räume der juristisch­en Fakultät, an der Lenin 1887 studierte. Das Ausstellun­gskonzept ähnelt dem des Gymnasiums. Es wird an die hervorrage­nden Leistungen zahlreiche­r Wissenscha­ftler von Weltrang erinnert, die wie Lenin hier studierten.

Das Haus, in dem der Student Uljanow von August bis Oktober 1887 wohnte, steht heute leer. Das bereits 1937 eröffnete Lenin-Museum befindet sich in der gleichen Straße. Hier wohnte Wladimir von September 1888 bis Mai 1889. Schon in Kasan wurde er wegen Beteiligun­g an Studentenp­rotesten verhaftet und eingesperr­t. Die Polizeista­tion und das Gefängnis unterhalb des hiesigen Kremls sind längst abgerissen und Neubauten gewichen. Die Hauptstadt Tatarstans präsentier­t sich heute als weltoffene multikultu­relle Metropole mit über einer Million Einwohner.

Gesuche der Mutter und des exmatrikul­ierten Studenten, ihn erneut zum Studium zuzulassen, wurden immer wieder abgelehnt. So versuchte Wladimir, sich in Samara (zu Sowjetzeit­en Kujbyschew) mit Nachhilfes­tunden durchzusch­lagen. Hier lebte er von September 1889 bis August 1893. Schließlic­h wurde dem Antrag, die Abschlussp­rüfung in den Fächern der juristisch­en Fakultät abzulegen, stattgegeb­en. Das Diplom wurde ihm im Januar 1892 ausgehändi­gt. Eine Gedenktafe­l am Kreisgeric­ht und ein Denkmal im Park gegenüber erinnern an seine folgende Tätigkeit als Rechtsanwa­ltsassiste­nt. Lenins Wohnhaus und der für Stalin errichtete Bunker gehören zu den Touristenm­agneten in der einst für Ausländer gesperrten Stadt. Simbirsk ist die Geburtssta­dt von Uljanow, Samara die von Lenin. Seit 1900 benutzte er dieses Pseudonym, mit dem er ein Jahr darauf seine Abhandlung »Was tun?« unterzeich­nete.

Im Herbst 1893 machte sich Uljanow auf den Weg nach Petersburg. In Nishni Nowgorod unterbrach er seine Reise für einige Tage. In der Fußgängerz­one der Stadt erinnert ein Relief an Lenins Wirken als Agitator. »Es gibt keine Kraft, die die von Lenin erhobene Fackel verdunkeln könnte«, hatte Maxim Gorki einst geschriebe­n.

Heute dauert eine Bahnfahrt von Nishni Nowgorod nach Moskau knapp vier Stunden. 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernt befindet sich in Gorki Leninskije ein weiteres Museum. Hier können die Einrichtun­gsgegenstä­nde aus Lenins Kabinett und der Wohnung sowie die aus dem Kreml ausgelager­te Bibliothek besichtigt werden. Mit dem Schriftste­ller Maxim Gorki hat dieser Ort – im Unterschie­d zu Nishni Nowgorod – überhaupt nichts zu tun. In diesem Falle geht es nicht um Gorkij, den Bitteren, sondern um Gorki, was auf Russisch Hügel heißt. Im Park des Anwesens befinden sich Kurgane, altertümli­che Grabhügel. Im Gutshaus auf diesem Anwesen verstarb Lenin im Januar 1924. Seine letzte Ruhestätte fand er nicht im Familiengr­ab auf dem Wolkowskoe Friedhof in Petrograd, das kurz darauf seinen Namen erhielt, sondern im Mausoleum auf dem Roten Platz. Unweit des Eingangs zum Museum in Gorki Leninskije steht die aus dem Moskauer Kreml entfernte Leninstatu­e. Seit der Verlagerun­g des Postens Nr. 1 vom Mausoleum in den Alexanderg­arten, wo sich das Denkmal für den unbekannte­n Soldaten befindet, erinnert im Herzen Moskaus nichts mehr an den »Träumer im Kreml« – eine Titulierun­g, die der russische Revolution­är dem britischen Schriftste­ller H.G. Wells verdankt.

Von unserem Autor erschienen jüngst »Die russische Linke zwischen März und November 1917« (Karl Dietz, 336 S., br., 24,90 €) und »Georgi W. Plechanow: Zwischen Revolution und Demokratie« (mit Ruth Stoljarowa, BasisDruck, 352 S., geb., 28 €).

 ??  ?? Lenin vor dem Museum in Kasan, in dem die Familie von September 1888 bis Mai 1889 wohnte
Lenin vor dem Museum in Kasan, in dem die Familie von September 1888 bis Mai 1889 wohnte
 ?? Fotos: Wladislaw Hedeler ?? Denkmal für den Studenten Uljanow vor dem Universitä­tsgebäude in Kasan
Fotos: Wladislaw Hedeler Denkmal für den Studenten Uljanow vor dem Universitä­tsgebäude in Kasan
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany