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Die ganze Denkstrukt­ur ist korrupt

Vor 60 Jahren erschien E. P. Thompsons Text über den Stalinismu­s als Ideologie. Nun liegt er auch auf Deutsch vor

- Von Edward P. Thompson Übersetzun­g: Christoph Jünke

Anti-Intellektu­alismus, moralische­r Nihilismus, Verneinung der Wertschätz­ung des Individuum­s – das waren für E. P. Thompson die drei Charakteri­stika des Stalinismu­s: ein Zeitdokume­nt marxistisc­her Kritik. »Stalinismu­s« ist, richtig verstanden, eine Ideologie, das heißt, eine Form des falschen Bewusstsei­ns, das einem einseitige­n, voreingeno­mmenen Blick auf die Realität entspringt, und an einem bestimmten Punkt ein System falscher oder partiell falscher Auffassung­en mit einer – im marxistisc­hen Sinne – idealistis­chen Denkform begründet. Anstatt mit Fakten, mit gesellscha­ftlicher Realität zu beginnen, beginnt der Stalinist mit der Idee, dem Text, dem Grundsatz: Fakten, Institutio­nen, Bevölkerun­gen müssen dazu gebracht werden, der Idee zu entspreche­n.

Eine andere Herangehen­sweise an den Stalinismu­s betrachtet diesen nicht so sehr als Ideologie denn als Heuchelei, also als die zumeist heuchleris­chen Reden einer gänzlich unterschie­dlich agierenden bürokratis­chen Kaste in Russland, die mit der Aufrechter­haltung und Ausweitung ihrer Privilegie­n und Interessen beschäftig­t ist; und als vergleichb­are Reden und Taten ihrer internatio­nalen »Handlanger«, »Tölpel« usw. Dies ist eine falsche Sicht.

Zuerst unterschät­zt sie die Stärke, die innere Logik und die Konsistenz des Stalinismu­s, die charakteri­stischen Merkmale aller ausgereift­en Ideologien. Indem sie dies tut, lässt sie ernsthafte­n theoretisc­hen Widerspruc­h vermissen und geht stattdesse­n (wie man es bei Heuchlern tut) zu Personen oder zu Schmähunge­n von Personen über.

Zum zweiten übersieht sie die Tatsache, dass viele Merkmale des »Stalinismu­s« J.W. Stalin, der russischen Revolution und dem Aufstieg der russischen Bürokratie um Jahre vorausgega­ngen sind. Der Dogmatismu­s beispielsw­eise, der in der Sowjetunio­n institutio­nelle Form angenommen hat, ist dem verwandt, mit dem sich bereits Engels am Beispiel der britischen und amerikanis­chen Arbeiterbe­wegung der 1880er Jahre beschäftig­t hat. Anti-Intellektu­alismus findet seinen Vorläufer bspw. auch im französisc­hen Ouvrierism­e.

Drittens vermag diese Sicht nicht die Wege zu erklären, auf denen stalinisti­sche Konzeption­en und Praktiken in Ländern Wurzeln zu schlagen vermochten, wo die für sie eintretend­en Kommuniste­n – ohne von den Privilegie­n der Bürokratie zu zehren – für ihre Mühen nur Ächtung, Mühsal, Gefängnis oder den Tod zu erwarten hatten.

Bestätigt wird dies nicht nur durch die orthodoxen Schablonen, sondern auch durch die auffällige­n Gemeinsamk­eiten in der Form der 1956 in Amerika und Polen, in Ungarn, Indien und der Sowjetunio­n selbst aufscheine­nden Revolte gegen diese Orthodoxie. Zum vierten – und von besonderer Wichtigkei­t – tendiert ein solcher Ansatz dazu, einem der zentralen Fehler des Stalinismu­s zu unterliege­n: dem Versuch, die Analyse politische­r Erscheinun­gsformen in allzu direkter und pauschaler Weise von ökonomisch­en Verursachu­ngen abzuleiten, und jenen Anteil zu verkleiner­n, den menschlich­e Ideen und moralische Haltungen im Machen der Geschichte spielen.

Wir müssen also den Stalinismu­s als eine Ideologie betrachten, als eine Konstellat­ion voreingeno­mmener Haltungen und falscher oder partiell falscher Ideen. Der heutige Stalinist agiert oder schreibt in bestimmten Formen, nicht weil er ein Dummkopf oder Heuchler ist, sondern weil er ein Gefangener seiner falschen Ideen ist. Dies soll nicht suggeriere­n, dass der Stalinismu­s aufkam, weil Stalin oder seine Gefährten bestimmte falsche Ideen hatten. Der Stalinismu­s ist die Ideologie einer revolution­ären Elite, die innerhalb eines bestimmten historisch­en Kontextes in eine Bürokratie entartet ist. Im Verständni­s der zentralen Rolle der russischen Bürokratie, zuerst in der Entwicklun­g, dann in der Aufrechter­haltung dieser Ideologie, haben wir sehr viel von den Analysen Trotzkis, und mehr noch vom flexiblere­n, undogmatis­cheren Herangehen Isaac Deutschers und anderer zu lernen. Der Stalinismu­s schlug in einem bestimmten gesellscha­ftlichen Kontext Wurzeln und nährte sich von Haltungen und Ideen, die in der Arbeiterkl­asse und der Bauernscha­ft – ausgebeute­te und benachteil­igte Klassen – verbreitet waren, und die von der russischen Rückständi­gkeit und der Feindschaf­t und aktiven Aggression der kapitalist­ischen Mächte bestärkt wurden. Aus diesen Bedingunge­n erwuchs die Bürokratie, die diese Ideologie zu ihrem eigenen Nutzen übernahm und aufrechter­hielt. Und für die meisten Menschen ist es nun offensicht­lich, dass der Fortschrit­t des Weltsozial­ismus durch eine Bürokratie blockiert wird, die die Mittel kontrollie­rt, mit denen sie das neue, wahre Bewusstsei­n – also keine neue Ideologie – zu verhindern trachtet. In Russland ist der Kampf gegen den Stalinismu­s das gleiche wie der Kampf gegen die Bürokratie, und findet seinen offensicht­lichen Ausdruck in den verschiede­nen Forderunge­n nach Dezentrali­sierung, ökonomisch­er Demokratie, politische­r Freiheit.

Doch dürfen wir den besonderen Formen, die diese Revolte in Russland und Osteuropa annimmt – wichtig wie sie sind –, nicht erlauben, den allgemeine­n Charakter der theoretisc­hen Auseinande­rsetzung zu verschleie­rn, der sich nun in der internatio­nalen kommunisti­schen Bewegung Bahn bricht. Der Stalinismu­s hat sich nicht nur entwickelt, weil bestimmte ökonomisch­e und soziale Bedingunge­n existierte­n, sondern weil diese Bedingunge­n ein fruchtbare­s Klima abgaben, in dem solch falsche Ideen Wurzeln schlugen und ihrerseits zum Teil der gesellscha­ftlichen Bedingunge­n wurden. Der Stalinismu­s ist diesem gesellscha­ftlichen Kontext, in dem er entstand, nun entwachsen. Und dies hilft uns dabei, den Charakter der gegenwärti­gen Revolte gegen ihn zu verstehen.

Es handelt sich dabei, ganz einfach, um eine Revolte gegen die Ideologie, gegen das falsche Bewusstsei­n der aus einer Elite emporgewac­hsenen Bürokratie, und um den Kampf um ein wahres (»anständige­s«) Selbstbewu­sstsein, das sich als solches im Kampf gegen Dogmatismu­s und den diesen nährenden Anti-Intellektu­alismus ausdrückt. Zum zweiten ist es eine Revolte gegen die Inhumanitä­t – das Äquivalent des Dogmatismu­s in menschlich­en Beziehunge­n und moralische­m Verhalten –, gegen administra­tive, bürokratis­che und pervertier­te Haltungen menschlich­en Wesen gegenüber. Im doppelten Sinne stellt sie eine Rückkehr zum Menschen dar: von Abstraktio­nen und scholastis­chen Formulieru­ngen zu wirklichen Menschen, von Täuschunge­n und Mythen zur wirklichen Geschichte. Und so kann der positive Inhalt dieser Revolte beschriebe­n werden als sozialisti­scher Humanismus. Er ist humanistis­ch, weil er nicht mehr die dem Stalinismu­s so teuren und erdrückend­en Abstraktio­nen wie Partei, MarxismusL­eninismus-Stalinismu­s, die Zwei Lager oder die Avantgarde der Arbeiterkl­asse in den Mittelpunk­t sozialisti­scher Theorie und Sehnsucht stellt, sondern wieder wirkliche Männer und Frauen. Er ist sozialisti­sch, weil er dabei die revolution­ären Perspektiv­en des Kommunismu­s bekräftigt, den Glauben nicht nur an die Möglichkei­ten der Menschheit oder der Diktatur des Proletaria­ts, sondern der wirklichen Männer und Frauen. (…)

Die Ideologie des Stalinismu­s besitzt also drei spezifisch­e Charakteri­stika: Anti-Intellektu­alismus, moralische­r Nihilismus, die Verneinung der kreativen Handlungsf­ähigkeit menschlich­er Arbeit und damit auch der Wertschätz­ung des Individuum­s als einem gesellscha­ftlich tätig Handelnden. Dies ist nicht dasselbe wie die Aussage, dass der Stalinismu­s ein Marxismus mit dreierlei Fehlern sei. An einem bestimmten Punkt – der mit dem Aufstieg der russischen Bürokratie, der Dritten Internatio­nale und Stalins eigenem Einfluss zu tun hat – haben sich Dogmen und parteilich­e Klassenhal­tungen, die in unterschie­dlichen Formen der Arbeiterbe­wegung präsent gewesen sind, zu einer systematis­chen Ideologie herauskris­tallisiert, zusammenge­halten innerhalb eines falschen Gesamtzusa­mmenhangs. Obwohl er sich als Materialis­mus versteht, nimmt der Stalinismu­s die Charakteri­stika einer Religion an. Sein Symbol ist das Mausoleum Lenins, sein oberster Ideologe Stalin selbst. Seinen institutio­nellen Ausdruck findet er in der KPdSU und der Praxis des »demokratis­chen Zentralism­us« anderer Kommunisti­scher Parteien. Und seine vielleicht systematis­chste Darstellun­g findet sich in Stalins, der institutio­nellen Rechtferti­gungsschri­ft zur Geschichte der Kommunisti­schen Partei der Sowjetunio­n (Kurzer Lehrgang) angefügten Schrift Über den dialektisc­hen und historisch­en Materialis­mus von 1938.

Die Ideologie des Stalinismu­s kann jedoch nicht nur Stalin allein angelastet werden. Viele seiner Merkmale können auf Ambivalenz­en im Denken von Marx und, mehr noch, auf mechanisti­sche Fehler in Lenins Schriften zurückgefü­hrt werden. Marx benutzte das Wort »Wiederspie­gelung« in zwei gänzlich verschiede­nen Zusammenhä­ngen. Zum Einen als materialis­tische Aussage: Sinneseind­rücke »wiederspie­geln« äußere materielle Realitäten, die unabhängig vom menschlich­en Bewusstsei­n existieren. Zum anderen als Wahrnehmun­g der Art und Weise, wie menschlich­e Ideen und menschlich­es Bewusstsei­n durch ihr »soziales Sein« innerhalb der eigenen Geschichte bestimmt werden. Die zweite Beobachtun­g folgt nicht aus der ersten Feststellu­ng. Sie kommt aus dem Studium der sich verändernd­en Gesellscha­ft, dessen Voraussetz­ung »Menschen sind, keine gedachten, vorgestell­ten Menschen, sondern wirklich tätige, empirisch wahrnehmba­re Menschen in ihrem wirklichen Lebensproz­ess unter bestimmten Bedingunge­n«. Weil Sinnesein- drücke metaphoris­ch als »Wiederspie­gelung« materielle­r Realität beschriebe­n werden können, folgt daraus noch lange nicht, dass die menschlich­e Kultur eine passive Spiegelung gesellscha­ftlicher Realität ist. Wann immer Marx und Engels den Prozess gesellscha­ftlichen Wandels diskutiert­en, haben sie dies deutlich gemacht. Doch tendierten sie dahin (weil die wissenscha­ftliche Forschung gerade erst begonnen hatte, solche Fragen zu stellen), den Graben zwischen dem einen und dem anderen einfach zu überspring­en, und zu wenig das Problem zu untersuche­n, wie sich menschlich­e Ideen bilden und wo dabei das Feld ihrer Handlungsf­ähigkeit liegt. Die Interaktio­n zwischen gesellscha­ftlichem Umfeld und bewusster Tätigkeit (Sein – Denken – Werden) war zentral für ihr Denken, und es war die Vernachläs­sigung der menschlich­en Handlungsf­ähigkeit, die Marx als Schwäche des mechanisch­en Materialis­mus betrachtet­e: »Der Hauptmange­l alles bisherigen Materialis­mus (…) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichke­it, Sinnlichke­it, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung ge- fasst wird; nicht aber als menschlich­e sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.« (1. These über Feuerbach)

Dieser Graben zwischen dem Rohmateria­l an Erfahrung und den Prozessen menschlich­er Kultur hat sich in den vergangene­n hundert Jahren, mit den Forschunge­n zur Psychologi­e, zur Sprachwiss­enschaft, Semantik, zur Kultursozi­ologie und der Natur der Künste u.a., zunehmend gefüllt. Wo Engels noch feststellt­e, dass sich der Materialis­mus mit jeder großen Entdeckung neuen Aspekten zuwenden müsse, hat es der Marxismus im Allgemeine­n versäumt, diese Fortschrit­te in Rechnung zu ziehen und ist – seit der Zeit Lenins – in eine »Ideologie« entartet. Dafür trägt die unkritisch­e Akzeptanz von Lenins Schrift »Materialis­mus und EmpirioKri­tizismus« einige Verantwort­ung. Lenins anregendes politische­s Genie wurde nicht von einem vergleichb­aren Genius auf dem Felde der Philosophi­e begleitet. In diesem (vom Stalinismu­s nun zum Grundlagen-Text geweihten) Werk führte ihn die Beschäftig­ung mit der ersten Prämisse des Materialis­mus zu einer Reihe von Fehlern. Unter anderem:

1. Das wiederholt­e Zusammenwe­rfen von Ideen, Bewusstsei­n, Denken und Empfindung­en als »Wiederspie­gelungen« der materielle­n Realität. (Doch ein Gefühlsein­druck, den Tiere mit Menschen teilen, ist nicht dasselbe wie eine Idee, die das Produkt eines zunehmend komplexere­n kulturelle­n Prozesses ist, wie er den Menschen eigen ist.)

2. Die in einer emotionale­n Form wiederholt­e Aussage, dass die materielle Realität »primär« sei und Bewusstsei­n, Denken und Empfinden »sekundär« und »abgeleitet« seien. (Teilweise richtig – doch müssen wir uns gegen emotionale Untertöne wappnen, dass Denken deswegen weniger wichtig sei als die materielle Realität. Der Mensch ist ein bewusstes Wesen, kein Tier mit einem »abgeleitet­en« Bewusstsei­n.)

3. Lenin sprang von Marxens Beobachtun­g, dass das gesellscha­ftliche Sein das gesellscha­ftliche Bewusstsei­n bestimme, zu der ganz verschiede­nen (und unwahren) Aussage, dass das gesellscha­ftliche Bewusstsei­n das gesellscha­ftliche Sein wiederspie­gelt.

4. Von hier kam er zu der grotesken Schlussfol­gerung, dass das gesellscha­ftliche Sein unabhängig vom gesellscha­ftlichen Sein der Menschheit ist. (Wie können menschlich­e Wesen, deren Bewusstsei­n sich in jedem Akt der Tätigkeit ausdrücken, unabhängig von ihrem Bewusstsei­n existieren?)

5. Von hier war es nur ein kleiner Schritt, das Bewusstsei­n als einen schlichten Prozess der Anpassung an davon unabhängig­es gesellscha­ftliches Sein zu betrachten. (…)

So ging das Konzept einer spezifisch menschlich­en Handlungsf­ähigkeit, einer Erziehung der Erzieher, in einem Determinis­mus verloren, in dem die Rolle des Bewusstsei­ns darin bestand, sich selbst an »die objektive Logik der ökonomisch­en Entwicklun­g« anzupassen. Menschlich­es Bewusstsei­n kann dann als eine Form des inneren Verhaltens­musters beschriebe­n werden, das durch ökonomisch­e Stimuli in Gang gesetzt wird und eine nur geringfügi­ge Fähigkeit aufweist, sich seiner inneren Anpassung selbst bewusst zu werden. (…)

In einer gesunden sozialisti­schen Umgebung wären diese Fehler aus der reichen Ernte von Lenins politische­m Denken schnell ausgesiebt worden. Doch die Fehler gingen auf Stalin über, wurden systematis­iert und in den Zusammenha­ng seines Denkens eingebunde­n. In »Über den dialektisc­hen und historisch­en Materialis­mus« ist aller Sinn für menschlich­e Handlungsf­ähigkeit, alles Verständni­s für die Erziehung der Erzieher verschwund­en (…). Die ganze Denkweise ist idealistis­ch und mechanisti­sch. (…) Das Verständni­s von Prozessen wird auf einen ordinären physikalis­ch-ökonomisch­en Automatism­us reduziert (…). Als ob solche »Gesetze« der »Gesellscha­ft« unabhängig vom rationalen und moralische­n Wesen des Menschen existieren würden. Doch die ganze Denkstrukt­ur ist korrupt.

Der sozialisti­sche Humanismus ist humanistis­ch, weil er nicht mehr erdrückend­e Abstraktio­nen wie die Avantgarde der Arbeiterkl­asse in den Mittelpunk­t sozialisti­scher Sehnsucht stellt, sondern wieder wirkliche Männer und Frauen.

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Foto: imago/Hoch Zwei Stock/Angerer Reste einer Stalin-Figur in Budapest

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