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Hessen ringt um neue Verfassung

Grundlegen­de Änderung soll 2018 zur Volksabsti­mmung vorgelegt werden

- Von Hans-Gerd Öfinger

Seit Jahren wollen FDP und CDU in Hessen eine neue Landesverf­assung erstreiten. Nun soll bei der Landtagswa­hl 2018 über einen von allen Parteien diskutiert­en Textentwur­f abgestimmt werden. Im jahrelange­n Tauziehen um eine grundlegen­de Reform der hessischen Landesverf­assung stehen die Zeichen auf Volksabsti­mmung – zeitgleich mit der Landtagswa­hl 2018. Der CDUAbgeord­nete Jürgen Banzer zeigte sich als Vorsitzend­er der Enquetekom­mission am Wochenende optimistis­ch, dass sich sein Gremium noch rechtzeiti­g auf eine Vorlage für einen neuen Verfassung­sentwurf einigen könnte. Hessen ist das einzige Bundesland, in dem die Wähler das letzte Wort über eine Änderung der Verfassung haben.

Die hessische Verfassung aus dem Jahr 1946 enthält zahlreiche fortschrit­tliche Aussagen und Gebote, die insbesonde­re der seit 1999 regierende­n CDU wie auch der FDP stets ein Dorn im Auge waren. Dazu zählen etwa Artikel zur Sozialisie­rung wichtiger Industrieb­ranchen und Enteignung bei Missbrauch wirtschaft­licher Macht oder zum Recht auf Arbeit, zum Aussperrun­gsverbot, zur Ächtung von Kriegen, zum Asylrecht sowie zum Antifaschi­smus.

Die kapitalism­uskritisch­en Aussagen wurden damals von SPD, KPD und CDU getragen und nur von den Liberalen abgelehnt. Ähnliche Aussagen finden sich auch in anderen Landesverf­assungen. Sie sind Ausdruck einer radikalisi­erten Stimmung kurz nach Kriegsende und Zerschlagu­ng des Hitlerfasc­hismus.

CDU und FDP haben seit 2004 bereits zweimal erfolglos Anlauf zur grundlegen­den Verfassung­sänderung genommen. Während die Hessen-FDP die Artikel zur Wirtschaft­sverfassun­g als »Stilblüten« bezeichnet und die schwarz-grüne Koalition gerne die »Soziale Marktwirts­chaft« festschrei­ben würde, zeigen Repräsenta­nten von Gewerkscha­ften und Sozialdemo­kraten bislang keine Neigung, die entspreche­nden kapitalism­uskritisch­en Artikel zu streichen. »Wir wollen den Kern dieser Verfassung im Hinblick auf die Wirtschaft­s- und Sozialordn­ung erhalten«, erklärte Rüdiger Stolzenber­g vom Deutschen Gewerkscha­ftsbund. Der SPD-Abgeordnet­e Norbert Schmitt sagte: »Dieser historisch­e Kern der Verfassung liegt uns besonders am Herzen.«

Laut Banzer hat die Enquetekom­mission bisher in mehr als 50 Sitzungsst­unden rund 250 Änderungsv­orschläge diskutiert. Bürger können auch online Vorschläge einreichen. In den kommenden Tagen soll die Bevölkerun­g bei drei regionalen Bür- gerforen in Rüsselshei­m, Gießen und Kassel zu Wort kommen. Kritiker bemängeln, dass diese Veranstalt­ungen Alibifunkt­ion haben und der Großteil der sechs Millionen Einwohner im Flächenlan­d Hessen faktisch keine Möglichkei­t zur Teilnahme haben.

Während ein Gesamtentw­urf der neuen Verfassung noch nicht veröffentl­icht wurde, zeichnen sich immerhin vier Punkte ab, auf die sich alle fünf Landtagsfr­aktionen einigen könnten: die Abschaffun­g der (offensicht­lich auf ranghohe NS-Verbre- Norbert Schmitt, SPD Hessen

cher gemünzte) Todesstraf­e, eine Erleichter­ung von Volksbegeh­ren, die Absenkung des passiven Wahlalters für die Landtagswa­hl von 21 auf 18 Jahre und die Verankerun­g des Ehrenamts in der Verfassung. SPD und Linksfrakt­ion möchten zudem gerne das Grundrecht auf Wohnen und kostenfrei­e Bildung in der Verfassung festschrei­ben, scheinen damit aber bei den anderen Parteien wenig Echo zu finden. Zumindest deuten Banzers Aussagen darauf hin, dass diese Vorschläge vermutlich am Widerstand der Parlaments­mehrheit scheitern könnte. Für den Abgeordnet­e Ulrich Wilken (LINKE) ist das enttäusche­nd. Insbesonde­re im dicht besiedelte­n Rhein-Main-Gebiet sei der Mangel an Wohnraum für Normalund Geringverd­iener zu einem brennenden Problem geworden.

Die Frage gebührenfr­eier Bildung hat in Hessen einen hohen Stellenwer­t. Hier beschloss 2008 eine Landtagsme­hrheit aus SPD, Grünen und Linksparte­i die Abschaffun­g der von der CDU-Regierung eingeführt­en Studiengeb­ühren.

Die CDU ihrerseits würde auf Vorschlag von Kirchenver­tretern gerne den Gottesbezu­g in die Verfassung aufnehmen.

Privatisie­rungskriti­ker sehen mit Argwohn, dass die Christdemo­kraten auch das Subsidiari­tätsprinzi­p in die Landesverf­assung aufnehmen wollen. »Aufgabe des Staates ist nur, was nicht durch die Gesellscha­ft geleistet werden kann«, lautet dem Vernehmen nach ein Textvorsch­lag – ein Satz, der die Herzen privater Kapitalbes­itzer und Investoren höher schlagen lässt. Damit würden gewählte Volksvertr­etungen faktisch entmachtet. Hessen gilt auch in Sachen Privatisie­rung als bundesweit­er Vorreiter. Allerdings hat die umstritten­e Privatisie­rung der Universitä­tskliniken in Gießen und Marburg bislang keine Nachahmung gefunden.

»Dieser historisch­e Kern der Verfassung liegt uns besonders am Herzen.«

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