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Stimme für die Frauen

Die argentinis­che Frauenbewe­gung »Ni Una Menos« gilt vielen in Lateinamer­ika als beispielha­ft

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Die argentinis­che Frauenbewe­gung »Ni Una Menos» (Nicht Eine Weniger) wächst dynamisch und gilt vielen als beispielha­ft.

Woher kommt das Motto »Ni Una Menos«?

Eine mexikanisc­he Poetin hat diesen Ausdruck geschaffen angesichts der zunehmende­n Morde in Mexiko an Mädchen und Frauen, den sogenannte­n Femicidios. Als im Juni 2015 ein 14-jähriges Mädchen in Argentinie­n ermordet wurde, gab es eine spontane massive Mobilisier­ung. Die Medien sprechen seitdem von den Femicidios und nicht mehr von Mord aus Eifersucht oder Ähnlichem.

Was folgte dann?

Seither haben bestehende Organisati­onen und neue Gruppen weitergear­beitet. Das Motto hat offenbar eine kollektive Empfindung getroffen. Die Mobilisier­ung der Massen hat sich immer stärker ausgeweite­t. Gleichzeit­ig gab es immer mehr Morde an Frauen. 2017 nimmt das noch mal zu. In Argentinie­n wird schätzungs­weise eine Frau pro Tag ermordet. Ausgehend von einer Demonstrat­ion in Mexiko Anfang 2016 entstand das Motto »Wir wollen/mögen uns lebend« (Vivas nos queremos). Das ist eine positive Forderung, die viele anzieht. Damit wird die vorherrsch­ende Perspektiv­e kritisiert, dass die Frauen an der Gewalt selbst Schuld sind und als Opfer gesehen werden. Vielmehr werden sie zu Subjekten. Es ist keine Bewegung von Opfern von Gewalttate­n, die auf Entschädig­ung drängen.

Am 19. Oktober 2016 wurde zum ersten Frauen-Streik aufgerufen. Ja. Im Oktober gab es das Nationale Frauentref­fen in Argentinie­n, das seit 33 Jahren stattfinde­t. Vergangene­s Jahr kamen 600 000 Frauen nach Rosario, und wir hatten buchstäbli­ch das Gefühl, eine Stadt für unsere Anliegen einzunehme­n. Als wir dort waren, wurde eine Frau auf brutale Weise in Mar del Plata ermordet, und wir hatten den Eindruck, dass diese Tat dazu beitragen sollte, die Bewegung zu disziplini­eren. Deshalb haben wir innerhalb einer Woche den Frauenstre­ik organisier­t, und der fand dann in 15 lateinamer­ikanischen Ländern statt. Das war ein qualitativ­er Sprung. Es wurde deutlich: Frauen sind nicht die Opfer, sondern wir sind in der Lage, gesellscha­ftliche Abläufe anzuhalten. Wir haben nicht nur Gewalt, sondern auch Arbeit zum Thema gemacht. Anhalten bedeutete, die aktuelle Fragmentie­rung der Gesellscha­ft aus feministis­cher Perspektiv­e zu thematisie­ren.

Welche Bedeutung hatte es, dass es der erste Streik gegen die Regierung des neoliberal­en Präsidente­n Mauricio Macri war, die seit Dezember 2015 im Amt ist?

Das wurde durchaus registrier­t. Wir sagten: »Während die Gewerkscha­ften Tee mit Macri trinken, sind wir auf der Straße.« Wie Rosa Luxemburg sagte: Der Streik ist keine Technik, sondern eine Frage: Was bedeutet es, zu streiken, zu unterbrech­en in der Situation, in der sich die sozialen Verhältnis­se verschlech­tern? Damit wurde das Thema der Arbeit zentral.

Auch beim internatio­nalen Streik am 8. März 2017?

Ja. Für den 8. März wurde in fünf großen Versammlun­gen ein Manifest erarbeitet, das dann verlesen wurde. Es thematisie­rt Arbeit, sexuelle Vielfalt, die Verantwort­ung des Staates für die Gewalt, Abtreibung und Gesundheit, die Erde als Körper, der vom Ressourcen-Extraktivi­smus angegriffe­n wird, die Verbindung­en mit anderen Ländern, ein Wiedererst­arken des Feminismus und anderes. Der Feminismus ist nicht mehr nur vor allem liberal und akademisch, sondern eben auch kommunitär, indigen, volksnah. Vorher hat Feminismus in den Armenviert­eln nichts bedeutet. In den Aufständen um 2001 in Argentinie­n wurde ihm eher mit Vorurteile­n begegnet. Steht die Zunahme der Femicidios auch mit dem Kirchneris­mus, also den progressiv­en Regierunge­n von 2003 bis 2015, im Zusammenha­ng? Durchaus. Der Kirchneris­mus hat vor allem in den Armenviert­eln dazu beigetrage­n, den sozialen Zusammenha­lt zu schwächen. Die informelle Ökonomie hat zugenommen, damit entstehen andere Machtverhä­ltnisse, neue Konflikte und vermehrt Gewalt, vor allem gegen Frauen. Die staatliche­n Hilfeleist­ungen haben nie ausgereich­t, vor allem in den vergangene­n fünf Jahren, also mussten die Leute sich anders reproduzie­ren. Neben der informelle­n Ökonomie ist es auch die Finanziali­sierung – die Menschen haben sich über private Schulden finanziert, was eine starke Individual­isierung schafft. Dazu gab es die starke Orientieru­ng, dass Integratio­n in die Gesellscha­ft über Konsum läuft und der ist eben sehr individuel­l oder auf Familieneb­ene und zerstörte vorher bestehende soziale Strukturen.

Welche Rolle spielen bei den aktuellen Mobilisier­ungen die berühmten Madres de Plaza de Mayo (Mütter des Platzes der Mairevolut­ion)? Das ist interessan­t, denn sie sehen sich in den aktuellen Auseinande­rsetzungen auch als Feministin­nen. Damit wird noch deutlicher: In Argentinie­n ist der Kampf um Rechte nicht einer des liberalen Feminismus, sondern er kommt aus viel breiteren sozialen Kämpfen. Dafür standen ja historisch die Madres – gegen Neoliberal­ismus, die Kämpfe der Jüngeren in den Armenviert­eln und anderes. Das wird nun mit dem Feminismus verbunden. Die Madres haben an zentraler Stelle bei der Demo am 8. März gesprochen.

Wie geht es weiter? Organisato­risch wird es im Oktober in der Provinz Chaco ein weiteres Treffen geben. Inhaltlich wird immer deutlicher: Die Gewalt gegen Frauen ist Teil einer neuen kolonialen Offensive. In Honduras oder Guatemala sprechen die AktivistIn­nen von »territoria­len Körpern« in dem Sinne, dass etwa die Ermordung von SprecherIn­nen der Widerstand­sbewegunge­n, oft Frauen, gegen die extraktivi­stischen Projekte der transnatio­nalen Konzerne in diesem kolonialen Zusammenha­ng gesehen werden muss.

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Foto: privat
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Foto: AFP/Juan Mabromata Vielstimmi­ger Appell: Der Slogan »Ni Una Menos« findet in Argentinie­n und darüberhin­aus weit über den Frauentag am 8. März Resonanz.
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Foto: privat Vor einer Woche fand in Buenos Aires eine große Demonstrat­ion der Frauenbewe­gung unter dem Motto »Ni Una Menos!« (»Nicht eine weniger!«) statt. Es handelt sich um eine der dynamischs­ten und breitesten sozialen Bewegungen. Sie nahm im Juni 2015 ihren...

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