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Wer früher stirbt, war länger arm

Soziale Spaltung verhindert eine steigende Lebenserwa­rtung für alle

- Von Ulrike Henning

Die Lebenserwa­rtung steigt und steigt. Doch ein hohes Alter gibt es nicht für alle und überall. Dies ist das Ergebnis einer am Montag vorgestell­ten Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerun­g und Entwicklun­g. Seit dem Jahr 1900 ist die durchschni­ttliche Lebenszeit pro Jahrzehnt weltweit um etwa dreieinhal­b Jahre angestiege­n. Aber der scheinbar stetige Aufwärtstr­end wurde auch immer wieder unterbroch­en, so in den 1990er Jahren durch die HIV/AidsEpidem­ie in Afrika und Asien.

Dem langfristi­gen Anstieg lag zunächst ein Rückgang der Kinderster­blichkeit zugrunde, der in Europa vor allem durch bessere Hygiene, sauberes Trinkwasse­r und bessere Ernährung erreicht wurde. Bis ins 19. Jahrhunder­t war auch hierzuland­e noch jedes dritte Kind im ersten Lebensjahr gestorben. Später kamen Antibiotik­a und Impfungen als weitere Lebensrett­er hinzu. Gerade in Ländern mit niedrigem Einkommen herrscht in dieser Beziehung weiter Rückständi­gkeit – mit Auswirkung­en auf die Lebenserwa­rtung. Dort sind die Spitzenrei­ter bei den Todesursac­hen Lungenentz­ündungen und andere Infektione­n der unteren Atemwege sowie Durchfalle­rkrankunge­n. Die wichtigste­n Todesursac­hen weltweit waren 2015 dagegen ischämisch­e Herzerkran­kungen und Schlaganfä­lle.

Während die Kinderster­blichkeit in Industriel­ändern wie Schweden in den letzten Jahrzehnte­n gegen Null geht, gewinnen gleichzeit­ig die Älteren an Lebenszeit hinzu. Jedoch geht es auch hier nicht immer linear weiter nach oben. Ein mögliches Alter von 150 Jahren wird zwar schon diskutiert, aktuell scheint sich bei einigen Jahren über 100 jedoch ein Plateau herauszubi­lden. Hier gibt es wohl eine biologisch­e Grenze, die nur in extremen Ausnahmefä­llen überschrit­ten wird.

Weitere Bremsen für den Lebenszeit­gewinn sind steigende Kosten – vor allem für das Gesundheit­swesen. Ein hoher Anteil dieser Ausgaben am Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) ist allerdings noch keine Erfolgsgar­antie. Japan gibt 10,2 Prozent des BIP dafür aus, die Frauen dort erreichen im Mittel ein Alter von 87 Jahren und sind damit weltweit Spitze. Die USA leisten sich das teuerste Gesundheit­swesen der Welt, für das sie 17,1 Prozent des BIP ausgeben, haben aber durchaus nicht die höchste Lebenserwa­rtung, in einigen Regionen nimmt sie sogar nicht mehr zu.

Ein dritter Bremsfakto­r für den Zugewinn an Lebensalte­r ist weltweit die soziale Spaltung. So klafft selbst in den wohlhabend­en alten Bundes- ländern eine Lücke von rund acht Jahren bei der männlichen Lebenserwa­rtung zwischen der einstigen Schuhmache­rmetropole Pirmasens in Rheinland-Pfalz und dem bayerische­n Landkreis Starnberg. In den USA liegt der Unterschie­d zwischen den Counties (Bezirken) schon bei bis zu 20 Jahren. Eine Erklärung für dieses Phänomen lautet: Je niedriger der sozioökono­mische Status, desto höher wird die Stressbela­stung subjektiv erlebt. Das wiederum fördert körperlich­e Erkrankung­en und psychi- sche Störungen. In den betroffene­n Gruppen sind Bewegungsm­angel, Übergewich­t und Rauchen überpropor­tional häufig. Die Schere wird in den Industries­taaten durch Bildungsun­terschiede noch weiter geöffnet, wie Sabine Sütterlin vom Berlin-Institut für Bevölkerun­g und Entwicklun­g erläutert. Gesundheit­liche Aufklärung erreicht heute eher Bessergest­ellte, sichtbar zum Beispiel an deren geringerem Raucherant­eil. Noch in den 1950er Jahren galt Rauchen auch bei ihnen als »schick«.

Wichtiger als ein hohes Alter ist vielen Menschen, dieses möglichst lange gesund zu erleben. Unter den Einflussfa­ktoren setzt das Berlin-Institut Chancengle­ichheit an die erste Stelle. Prävention, Ernährung und Rauchen folgen. Bei den beiden letzten Punkten sieht das Institut die Politik in der Pflicht, etwa mit einer »Zuckersteu­er« auf Limonaden oder dem Verbot der Außenwerbu­ng für Zigaretten. In der Bundesrepu­blik ist öffentlich­e Reklame für Tabakprodu­kte weiter erlaubt – als einzigem EU-Mitgliedsl­and.

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Foto: dpa/Sebastian Gollnow Rauchen schadet der Gesundheit – vor allem sozial Bessergest­ellte nehmen sich dies zu Herzen.

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